Ich wusste, dass sie mich nicht gehen lassen wollte. Ich wusste, dass sie nie zulassen würde, dass ich wegziehe. Weg von ihr, weg von der ganzen Scheiße.
„Ich werde umziehen!“, sagte ich zu meinem Vater. „Ich will es.“
„Nun, gut“, meinte er daraufhin. „Dann versuch dein Glück. Wenn du nicht zurechtkommst – und das wird mit Sicherheit keine drei Monate dauern – dann kannst du hierher zurückkommen. Dein Zimmer bleibt frei für dich, und die Eigentumswohnung in Solingen werde ich auf dem Markt als Verkaufsobjekt eingetragen lassen, damit ich sie auch schnell wiederverkaufen kann, wenn du zurückkommst.“
„Ich komme nicht zurück“, wollte ich sagen.
„Ja, gut“, sagte ich stattdessen. „Ich werde es trotzdem versuchen.“
„Du wirst nie ohne deine Mutter leben können“, machte mein Vater mir klar. „Du kommst wieder, das weiß ich.“
Dann ging er raus.
In der nächtlichen Dunkelheit auf der Autobahn, die nur durch das Scheinwerferlicht meines Ford Escorts unterbrochen wurde, sah ich schließlich ein Hinweisschild auf eine Raststätte. Ja, genau, das wär’s jetzt. Kurz Pause machen und einen Kaffee trinken. Vielleicht noch was Kleines essen.
Als ich auf den Parkplatz fuhr, sah ich eine Menge Trucks und Lastkraftwagen. Komischerweise schien dieser Rastplatz sehr besucht, obwohl die Straßen so leer waren.
Ich orderte schließlich an der Theke einen Kaffee, ein Glas Cola und ein Baguette mit Käse und Schinken. Mit dem Tablett setzte ich mich dann an einen freien Platz.
Kurze Zeit später – ich hatte die Cola bereits ausgetrunken – kam eine Frau an und setzte sich neben mich.
„Darf ich?“, fragte sie.
Ich sah sie nur an.
Eine Frau sprach mich an. Wie ungewöhnlich war das denn?
„Sind Sie auch mit Ihrem LKW auf nächtlicher Tour?“, fragte sie dann.
Und sie wollte sogar ein Gespräch beginnen. Äußerst seltsam Naja, sie kannte mich eben nicht. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich zurückhaltend und scheu gegenüber Menschen war.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Man sieht nur vereinzelt Lastkraftwagen auf der Straße“, sagte sie dann. „Ich bin mit meinem PKW unterwegs und komme gerade von einer Urlaubsreise zurück.“ Sie nippte dann an ihrem Getränk, das sie vor sich stehen hatte. „Deswegen dachte ich, Sie sind bestimmt ein Fernfahrer.“
„Ich ziehe um“, antwortete ich ihr nur. „Ich habe meine Zelte in Bielefeld abgebrochen und ziehe nach Solingen.“
„Mitten in der Nacht?“, fragte sie ungläubig.
Ich antwortete nichts darauf.
„Solingen ist eine schöne Stadt“, fügte sie hinzu. „Ich war schon ein paar Mal dort. Eine Freundin wohnt dort. Kennen Sie schon jemanden in Ihrer neuen Heimat?“
„Meine Freundin“, erklärte ich schließlich.
„Wie romantisch. Sie fahren mitten in der Nacht zu Ihrer Freundin und brechen alle Zelte zu Hause ab.“
„Ja, genau“, lächelte ich verlegen.
„Wie heißen Sie?“, fragte sie anschließend.
Warum sollte ich ihr das nicht sagen? Ich kannte sie nicht, und sie kannte mich nicht. Da war es doch eigentlich egal. Und bestimmt würde ich sie nicht wiedersehen, obwohl sie eigentlich ganz nett zu sein schien.
„Benjamin Foster“, antwortete ich.
„Ich heiße Simone Welter“, stellte sie sich vor. „Und warum ziehen Sie mitten in der Nacht um?“
„Na, ja“, begann ich. „Ich ziehe eigentlich erst am Samstag um. Meine neue Wohnung ist noch ganz leer. Ich habe nur ein paar Sachen mit, so das Wichtigste, aber ich bin dann doch schon heute losgefahren.“
„Och“, machte die Frau. „Sie können es nicht erwarten, mit Ihrer Freundin zusammen zu leben. Das ist süß.“
Ich sah sie fragend an.
„Wir sind seit einem halben Jahr in einer Fernbeziehung“, erklärte ich schließlich. „Jetzt habe ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten und musste endlich raus.“
„Ist ihre Freundin der einzige Grund, warum Sie umziehen?“, wollte die Frau dann wissen.
Ich schnaufte aus.
„Warum fragen Sie?“, wollte ich wissen.
„Nun, Sie machen mir einen so schüchternen Eindruck, fast niedergeschlagen.“
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Aus irgendeinem Grund interessierte sich diese Frau – eine fremde Frau – für meine Geschichte. Ich war das nicht gewohnt. Noch nie hat sich jemand, mal abgesehen von Jenny vielleicht, für meine Geschichte interessiert.
„Lief nie besonders gut in meiner Familie“, brachte ich nur heraus. „Ich bin froh, dass ich das jetzt hinter mir habe.“
Was hätte ich ihr erzählen können?
Meine Familie. Ein Vater, der versucht, mich unselbstständig zu halten, wo er nur konnte. Der mir das kaufte, was ich brauchte, und der glaubte, sich meine Achtung mit Geld erkaufen zu können. Eine Mutter, die mich behandelte wie ein kleines Kind und nie, nie, nie akzeptieren konnte, dass ich erwachsen war. Eine Schwester, die mich immer unterbuttert hatte, mir nie etwas zutraute und mir stets zeigte, dass sie, obwohl sie zwei Jahre jünger war, in allem weiter und reifer war als ich.
Ja, das war sicher meine Schuld. Ich ließ es ja auch jahrelang mit mir machen. Und irgendwann war es auch egal.
Aber jetzt – jetzt hatte ich meine Sachen gepackt und bin weg. Weg aus dem tristen Alltag. Weg aus meinem alten, schwachen Leben.
„Ich muss weiter“, verabschiedete ich mich dann von der Frau. „War nett, mit Ihnen zu reden.“
Ich ging zu meinem Auto und machte mich wieder auf den Weg in das Morgengrauen, das bereits anfing, und fuhr die letzten 100 Kilometer bis zu meinem neuen Zuhause.
Unvergleichlich, dieser Moment, als ich meine Wohnung im fünften Stock aufschloss. Endlich.
Es waren noch keine Möbel drin. Egal. Nur eine Matratze lag im riesigen Wohnzimmer auf dem Boden. Aber das Licht ging schon, und Wasser lief auch.
Nachdem ich alles oben hatte, legte ich mich auf die Matratze und begann zu träumen.
Was mich wohl jetzt erwarten würde?
Die Frau in der Raststätte hatte Recht, ich kannte hier niemanden. Außer Jenny. Ich, Benjamin Foster, würde jetzt hier ein ganz neues Leben anfangen. Ich brauchte nicht mehr an mein früheres Leben zu denken. Es lag hinter mir, es war vorbei.
Verdammt. Plötzlich packten mich unvorbereitet Zweifel. Ich hatte keine Ahnung, wo sie herkamen. Wie ein Blitz schossen sie mir durch den Kopf. Verfluchter Mist.
Was wäre, wenn Vater Recht hätte? Wenn ich es wirklich nicht schaffte und vielleicht schon nächste Woche zurück nach Bielefeld gehen müsste, weil ich hier total gescheitert bin? Sollte ich jetzt schon gescheitert sein, bevor es überhaupt richtig losgegangen ist?
Was waren das für Gedanken, die ich nicht haben wollte? War das normal, wenn man von zu Hause weggeht?
Ich wollte nicht mehr nach Hause zurück. Nie mehr.
Plötzlich klingelte es an meiner Tür, um neun Uhr morgens. Und ich wusste, wer das war.
Meine bösen Gedanken schienen von einer Sekunde auf die Andere wieder weg zu sein. Ich konnte mich freuen. Ja, und das tat ich auch.
Eilig hüpfte ich zu der großen, verglasten Eingangstüre meiner Wohnung, die auf den Laubengang führte und machte sie auf.
„Jenny“, hauchte ich lächelnd.
„Du bist da“, sagte sie leise, und dann nahm sie mich in ihre Arme. Sie wollte gar nicht mehr loslassen.
Ich brachte keinen Ton heraus. Voller Erleichterung legte ich einfach meinen Kopf in ihre Schulter und weinte.
„Ist ja gut“, sagte sie. „Du bist ja jetzt hier. Und ich bin jetzt bei dir.“
„Meine Wohnung“, stammelte ich. „Meine eigene Wohnung“
Wir gingen auf die Matratze – was Anderes zum Hinsetzen war ja noch nicht da – und ließen uns dort nieder, während wir einige Minuten stumm waren und den zarten Schneeflocken zusahen, die vom morgendlichen Himmel fielen und wunderschöne Eisblumen auf die Fenster zauberten.
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