So schnell hatten sie noch keine Szene im Kasten gehabt, auch wenn der Schluss der Lippenakrobatik herausgeschnitten werden musste, da er überhaupt nicht ins Drehbuch passte.
Völlig unerwartet stieß Janine Leon heftig mit den Worten „Das ist ja furchtbar!“ von sich und ergriff beinahe panikartig die Flucht.
„Was zum Teufel ist jetzt los?”
Daniel sprach das aus, was Leon durch den Kopf huschte. Der Braunhaarige verstand überhaupt nichts mehr. Gerade noch hatte es den Anschein gehabt, dass die Kleine sich mit ihrer Rolle abgefunden hatte und sie mehr als ordentlich spielte. Was war auf einmal passiert? Hatte sie sich nun daran erinnert, dass dieser Kuss doch zu eklig für sie war und deshalb mit verbalen Ohrfeigen um sich geschlagen?
Leon war außer sich vor Scham, Wut und etwas anderem, das er nicht klar definieren konnte. Diese explosive Mischung holte eine ungekannte Gehässigkeit in ihm hervor, und er wünschte sich, dass es Janine nun vermasselt hatte, dass ihr Verhalten untragbar war und man jemand anderen als Sofia engagieren würde. Jemand, der weniger verwirrend und besser für sein seelisches Gleichgewicht war. Er hatte keine Lust, sich weiter so behandeln zu lassen. Janine musste gehen. Und wenn nicht freiwillig, nun ja, dann gab es bestimmt eine Möglichkeit, ein wenig nachzuhelfen...
Leon erschrak über sich selbst. So eine Bösartigkeit war er von sich gar nicht gewohnt. Normalerweise war er die Gutmütigkeit in Person. Wenn, dann steckte er eher mal zurück und verzichtete darauf, sich selbst etwas Gutes zu tun, nur um andere nicht zu verletzen. Doch irgendwie löste die Kleine eine Menge unbekannter Gefühle in ihm aus. Auch wenn er sie weder einordnen noch leiden konnte, war ihm auf einmal klar, dass es schäbig war, Janine dafür büßen zu lassen.
Gut, die Göre war nicht gerade seine Lieblingspartnerin und nervte ihn gewaltig. Umgekehrt schien es Janine allerdings genauso zu sehen. Trotzdem war das kein Grund, sich gegenseitig die Hölle heiß zu machen. Sie waren doch beide erwachsen – auch wenn die Kleine ausschaute, als hätte sie gerade die Realschule hinter sich gelassen. Es musste irgendwie möglich sein, dass sie sich arrangierten und ihre Rolle glaubhaft spielen konnten, ohne sich zu zerfleischen.
*****
Janine war ihr kleines Problem schnell und unauffällig losgeworden. Niemand hatte gemerkt, dass sie ihren Slip wechseln musste. Das beruhigte sie jedoch keineswegs, da sie wusste, dass sie sich ein noch Größeres vom Hals schaffen sollte. Sie musste sehen, dass sie Leon irgendwie vergraulen konnte, bevor sie die erste Bettszene drehen und ein Hauch von Nichts tragen würden. Ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen wegen ihrer bösen Gedanken, aber die Angst vor einer Totalblamage und als lächerliche Versagerin dazustehen, war stärker.
Es war zudem die einzige Möglichkeit, noch einmal eine riesige Dummheit zu vermeiden. Nach dieser furchtbaren Erfahrung mit Steffen hatte sie sich geschworen, sich nicht wieder das Herz herausreißen zu lassen. Davon hatte sie sich immer noch nicht ganz erholt, auch wenn sie sich auf dem Weg der Besserung befand. Doch Leon war nahe daran, ihre Pläne zu durchkreuzen. Dieser Mann hatte etwas an sich, dem man sich schwer entziehen konnte. Es war so leicht, sich in ihn zu verlieben. Aber wo sollte das hinführen? Ein zerbrochenes Herz war schon vorprogrammiert. Dabei hatte Leon auf den ersten Eindruck noch nicht einmal wie ein Draufgänger gewirkt. Er schien eher schüchtern zu sein. Die vorgeführte Hemmungslosigkeit bei ihrem Kuss ließ allerdings etwas anderes vermuten. Für sie lief es nun eher darauf hinaus, dass es bloß eine Masche war, um bei den Frauen zu landen. Doch sie würde nicht mit sich spielen lassen. So was würde ihr bestimmt nicht noch einmal passieren.
Janine dachte wehmütig an Steffen zurück. Es hatte alles so toll zwischen ihnen begonnen. Nach einer Reihe von flüchtigen Abenteuern war ihr der schwarzhaarige junge Mann zufällig in einer Karaoke-Bar über den Weg gelaufen. Die Liebe zur Musik hatte sie sofort miteinander verbunden. Sie hatten viel geredet und gelacht, als ob sie sich schon seit Ewigkeiten kennen würden. Nachdem der Abend mit einem gemeinsamen Duett auf der Bühne geendet hatte, hatte sie geglaubt, endlich jemand gefunden zu haben, mit dem sie eine feste Beziehung eingehen konnte.
Tatsächlich lief es in den ersten Wochen blendend. Janine hatte sich bald hoffnungslos verliebt und war überzeugt, dass Steffen der Mann ihres Lebens war. Auch er hatte immer beteuert, dass er mit ihr alt werden wollte. Das glaubte sie solange, bis sie einmal früher von der Arbeit nach Hause gekommen war und Steffen mit einer anderen erwischt hatte. Die beiden hatten nackt auf der Couch gesessen, sich gegenseitig mit Schokolade gefüttert und alberne Liebesschwüre zugeflüstert.
Der ertappte Sünder hatte nicht einmal versucht, sich zu rechtfertigen und den dummen Spruch „Es ist nicht so, wie es aussieht” heraus zu posaunen. Stattdessen bestätigte er, das es genauso war, wie aussah. So musste Janine auf die harte Tour erfahren, dass sie nur als Notnagel hatte herhalten müssen. In Wahrheit hatte Steffen schon seit langem eine feste Freundin, die er wirklich liebte. Nur leider waren sie beide arme Studenten und brauchten Janines Geld, um gut leben zu können.
Dass ihre erste große Liebe in so einem Desaster endete, hatte die junge Schauspielerin bis heute nicht richtig verdaut. Doch sie hatte sich geschworen, dass sie von nun an vorsichtiger sein und ihr Herz nicht mehr leichtfertig verschenken würde. Nur brachte Leons Anblick eben dieses Organ noch mehr in Aufruhr, als es bei ihrer ersten Begegnung mit Steffen der Fall gewesen war.
Der beste Weg, sich gegen diese aussichtslosen Gefühle zu wehren, war es, sich den Braunhaarigen zum Feind zu machen. Entweder würde sie es schaffen, dass dieser seine Rolle hinwarf oder dass er ihr zumindest, soweit es möglich war, aus dem Weg ging. Ja, es würde ihr auch genügen, sich ständig mit dem Mann zu streiten, bis die Fetzen flogen. Das würde ebenfalls jedes zärtliche Gefühl schon im Keim ersticken. Zum Glück dachte Leon bereits, dass sie ihn widerlich fand. An diesem Punkt musste sie ansetzen.
Als sie zum Set zurückkehrte, warf sie ihrem Kollegen deshalb den mörderischsten Blick zu, den sie zustande bringen konnte.
Der junge Mann ging instinktiv einen Schritt zurück. Womit hatte er diese finstere Miene nun wieder verdient? Er war sich keiner Schuld bewusst. Aber vielleicht war die Kleine auch nur wütend auf sich selbst, weil sie eingesehen hatte, dass sie einen großen Fehler begangen hatte. So unkontrolliert vom Set zu stürmen, war schon sehr unprofessionell. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn man Janine auf der Stelle kündigen würde.
Tatsächlich waren weder Daniel noch der Regisseur besonders gut auf die Blondine zu sprechen, aber sie rauszuwerfen, war das Letzte, was ihnen in den Sinn kam.
„Du kannst froh sein, dass das kein offizieller Dreh war”, nahm sich Daniel die Schauspielerin zur Brust. „Und du kannst ebenfalls von Glück sagen, dass die Chemie zwischen dir und Leon so auffallend stimmt. Ich habe noch nie ein Pärchen vor der Kamera gehabt, bei dem es auf Anhieb so geknistert hat und das so glaubhaft rübergekommen ist. Ihr seid ein echtes Traumpaar. Umso weniger verstehe ich deinen unrühmlichen Abgang. Das war doch nun wirklich nicht nötig! Aber ich will heute noch einmal darüber hinwegsehen. Morgen werde ich jedoch nicht mehr so großzügig sein. Wir haben ein straffes Programm und müssen mehrere Szenen, auch zwischen Sofia und Roman, drehen. Da erwarte ich Konzentration und vor allem Disziplin! Also, Janine, welche Laus dir auch über die Leber gelaufen ist, sorge dafür, dass sie morgen verschwunden ist. So was wie heute werde ich nicht noch einmal dulden. Verstanden?”
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