Moritz umarmte Cindy, um sie zu trösten. »Zu spät merken die Menschen, dass sie das letzte Stückchen des Weges ganz allein reisen. Selbst wenn du in unserer Welt, mit noch so viel Geld, Macht und Einfluss hantiert hast, in der allerletzten Stunde zählt das nicht. Dann schreitet jeder den gleichen Weg. Ob er nun stinkreich oder bettelarm ist. Für den Fall, dass es für meinen Vorgesetzten einmal soweit ist, wird sich keiner mehr für sein Parteibuch interessieren. Die Menschen haben die Pflicht, wieder zu sich selber zu finden. Den Grund unseres Daseins sehe ich nicht allein im Geldverdienen …«
Cindy löste sich aus Moritz’ Umarmung. Mit weiten offenen Augen sah sie ihn an. »Das war nett, was du da gesagt hast. Aber gilt das nur für die anderen oder auch für dich?« Ihre Worte waren mit fester Stimme gesprochen.
»Wie meinst du das?«
»Na, wenn es deine Entscheidung betrifft, als Drehbuchautor im Landhaus zu wohnen oder sich als Polizist des Geldes wegen erschießen zu lassen.«
»So schnell wird niemand erschossen.« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Du hast mit Bernd ein Komplott gegen mich ausgearbeitet?«, stellte er mit kritischer Stimme fest. »Woher weißt du, dass ich mir im Grunde genommen nur deinetwegen das Landhaus ansehe?«
»Blödsinn! Erstens war es dein Wunsch, schon immer in einem eigenen Haus zu wohnen. Und zweitens, hast du vergessen, dass ich seine Sekretärin bin?« Leise fügte sie an: »Ich bearbeite nicht nur den Briefwechsel und redigiere Manuskripte. Da ist auch eine zwischenmenschliche Beziehung zu meinem Arbeitgeber, deinem Freund. Natürlich deutete Bernd mir an, dass du nur meinetwegen das Haus betrachtest. Kein Mensch wird von dir verlangen, von heute auf morgen eine Entscheidung zu treffen, die dein bisheriges Leben vollkommen umkrempeln würde. Das verstehe ich. Bernd versteht das ebenfalls. Außerdem haben wir vor uns dieses Gartenhaus erst mal anzusehen. Ich bin deshalb so begeistert, weil sich alles bezaubernd anhört. In einem eigenen netten alten Haus, weitab der Großstadt-Hektik mit einem Mann zu leben, den ich liebe.«
Sekundenlanges Schweigen.
»Ich liebe dich auch, Kleines«, flüsterte er ihr einfühlsam ins Ohr.
Fast eine Minute umarmten sie sich gegenseitig äußerst liebevoll. Cindy bekam kaum Luft. »Komm, lass uns fahren.« Sie löste sich schließlich schweratmend aus seiner Umklammerung.
Auf der Fahrt sah sie vom Beifahrersitz aus zu ihm hinüber. »Die Landkarte brauche ich diesmal nicht. Ich habe mir vorher die Strecke genau eingeprägt.«
»Wie hieß dieser … dieser …«
»Polizeibeamter Kronitz. Ich bin wahnsinnig gespannt, was der uns zu berichten hat.«
Kaum merklich schüttelte Moritz mit leicht verzogenem Mundwinkel den Kopf. »Ich befürchte, du steigerst dich da in irgendwas rein …«
»Das stimmt nicht«, unterbrach sie ihn schroff. »Aber denke doch mal an die Leiterin vom Dachsbau . Wie geheimnisvoll die sich gegeben hat.«
»Ja, weil sie sich wichtig vorkam. Übrigens, ich habe mich Dienstagabend im Dezernat erkundigt, was es mit der Akteneinsicht auf sich hat.«
»Und?«
»Dir oder einem Anwalt steht die Einsicht in die Akten zu.«
»Aber was nützt das, wenn mit einem Mal die Hälfte der Unterlagen fehlt.«
»Ich habe mit Hansen gesprochen«, fuhr Moritz fort. »Er ist ein alter Hase. Bei einer Adoption, meint er, kommt viel Papierkram zusammen. Insbesondere, wenn es einiges zu klären gibt. Beispielsweise bei Fragen zum Geburtsort. Da entsteht ein regelrechter Briefwechsel zwischen Jugendamt, Sozialamt, Betreuungsgericht. Und das Ganze auch noch mit einer ausländischen Behörde, wie in deinem Fall. Es ist durchaus möglich, meinte Hansen, dass da ein dicker Ordner zusammengetragen wird. Ohne das eine brauchbare Information darunter ist. Am besten du reduzierst die Hoffnungen auf ein Minimum, damit du hinterher nicht enttäuscht bist«, empfahl er mir.
»Abwarten«, sprach sie ein wenig säuerlich. Dabei beobachtete sie, durch das Seitenfenster, die rasch vorbeifliegende Landschaft.
»Halt!«, rief Cindy wie aus heiterem Himmel. »Hier geht’s rechts ab. Jetzt sind wir gleich da.«
Wenige Minuten später beugte sie sich nach vorn, um hierdurch die Umgebung besser wahrzunehmen. »Links, das Haus ist es.« Der Zeigefinger ihrer rechten Hand deutete auf ein älteres Einfamilienhaus, am Eingang vom Ort. »Park doch direkt vor der Garage«, forderte sie ihn auf.
Moritz kam ihrer Forderung nach. Er stellte das Fahrzeug vor dem Kfz-Einstellplatz, neben dem weißgetünchten Haus ab. An einigen kleinen Stellen der Außenwand des Hauses löste sich bereits der Putz. Die dort fehlende cremeweiße Farbe ließ das trübe Grau darunter erkennen.
Kaum das sie an der Tür geläutet hatten, öffnete ihnen ein älterer Mann in der Dienstkleidung der Polizei. »Ja, bitte?!« Seine fragenden Augen sahen die beiden vor ihm Stehenden misstrauisch an.
Moritz stellte sich sowie Cindy mit knappen Worten vor. »Wir kommen in einer Angelegenheit, die schon fünfundzwanzig Jahre zurückliegt«, leitete er das Gespräch vorsichtig ein.
»Wie viel Jahre?!« Der Polizist meinte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Haben Sie solange nach mir gesucht?« Die Frage klang überaus spöttisch.
»Es handelt sich um ein Heimkind«, mischte sich Cindy ins Gespräch. »Genauer gesagt, um mich. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren gaben Sie ein Kind im Kinderheim ab. Im Dachsbau . Nicht weit von hier entfernt. Erinnern Sie sich?«
Der Polizeibeamte legte die Stirn in Falten. Dann bat er beide ins Haus. »Ich besinne mich an kein kleines Mädchen, das ich in einem Kinderheim abgegeben habe«, knirschte er muffelig. »Wann war das genau, sagten Sie? – Hm. – Nein, leider. Ach halt, warten Sie mal. Richtig! Habe ich schon fast wieder vergessen. Damals, mein Gott ist das lange her, da habe ich ein kleines Mädchen in einem Waisenhaus abgeliefert. Nur wie das Kinderheim hieß, daran erinnere ich mich nicht mehr.«
Cindy beobachtete jede einzelne Regung des anderen. Sie stellte jedoch nichts Besonderes fest. Ebenso der Name Dachsbau hinterließ keinen Eindruck bei ihm.
»Was ist so bedeutungsvoll an dem Vorgang?«
»Wie ich bereits erwähnte, das Mädchen, das Sie seinerzeit dort ablieferten, war ich.«
Der Polizist sah sie lange an, bevor er mit langgedehnter Stimme fragte: »Sie?« Erst jetzt schien er die Zusammenhänge zu verstehen.
Für den Bruchteil einer Sekunde meinte Cindy, ein kurzes hektisches Blitzen in seinen Augen wahrgenommen zu haben. »Erinnern Sie sich noch?«, fragte sie aufgeregt.
Der Polizeibeamte zuckte uninteressiert mit den Achseln. »In dieser Sache gibt es nichts, was ich im Gedächtnis habe. Ein normaler, eher unbedeutender Vorfall …«
»Wie kam es dazu, mich im Kinderheim abzuliefern?«
»Der Vorgang war etwas komisch. Fand ich jedenfalls. Von der Zentrale habe ich per Funk den Auftrag bekommen, ein Kind in ein Waisenhaus zu bringen. Das Dorf, vielleicht ist es besser, Kleinstadt zu sagen, lag etwa eine halbe Fahrstunde von hier entfernt. Um kein Aufsehen zu erregen, habe ich hinter dem Mietshaus geparkt. Schließlich war ich mit dem Polizeiwagen dort.«
»Wissen Sie, wer bei der Polizei angerufen hat?« Moritz sah ihn fragend an.
»Die Mieterin selber. Trondberg, hieß sie.«
»Nach all den Jahren erinnern Sie sich noch so klar an den Namen?« Moritz staunte.
»Das Kreuzfahrtschiff von unserer letzten Urlaubsreise damals, hieß so. Im ersten Stock öffnete mir Frau Trondberg. Ich betrat ihr Wohnzimmer. Auf der Couch saß ein Mädchen mit einem Spielzeug in der Hand. Die Kleine schien sich für mich gar nicht zu interessieren. Danach bemerkte ich, wie die Wohnungsinhaberin zu zittern anfing. Vielleicht hatte sie vorher schon gezittert und ich habe es nur nicht zur Kenntnis genommen …«
Читать дальше