„Schlechte, schlechte Tante“, murmelte Leto, als die letzten Abendsonnenstrahlen ihr Gesicht streichelten. Sie fuhr mit der Hand müßig über die Gräser neben sich, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als plötzlich eine unbekannte Stimme fragte: „Was hat die schlechte Tante denn verbrochen, und was kann ich tun, um sie zu strafen?“
Leto blieb noch einen Sekundenbruchteil mit geschlossenen Augen liegen. Die Stimme klang angenehm, tief und samtig, sie erinnerte sie an die Erzählerstimme ihres Vaters. Allerdings hatte hier eindeutig ein neckender Unterton mit geschwungen, mutwillig, aber freundlich. Außerdem klang der Sprecher deutlich jünger als Koios. Wie interessant.
Langsam hob sie die Lider. Ein paar Meter entfernt stand ein junger Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Abgesehen von einer kurzen Tunika schien er auf Kleidung nicht sonderlich viel Wert zu legen, er war barfuß wie sie, und das letzte Abendlicht malte beeindruckende Schatten auf seine muskulösen Arme und Beine. Schwarze Locken fielen ihm in die Stirn, und er lächelte sie fröhlich und neugierig an.
„Die schlechte Tante mag ihre Nichte nicht“, antwortete Leto und lächelte zurück, während sie sich aufsetzte und ein Stück zur Seite rutschte – eine eigentlich vollkommen überflüssige Bewegung, saß doch weit und breit niemand außer ihr selbst, aber sie verfehlte ihre Wirkung nicht: Der interessante Fremde machte die letzten paar Schritte und ließ sich neben ihr nieder. Er betrachtete ihr Gesicht, die rehbraunen Augen, den sanft geschwungenen Mund, ließ seinen Blick über ihre ganze schlanke, aber wohl gerundete Gestalt schweifen, zupfte an ihren dunkelroten gewellten Haaren und fragte: „Und was gibt es an einer so entzückenden Nichte nicht zu mögen? Bist du vielleicht nicht sehr liebenswürdig?“
Leto, die etwas Angst gehabt hatte, nach dieser Musterung aus seinen absurd blauen Augen unter den schwarzen Brauen plötzlich keine Worte mehr finden zu können, prustete los.
„Doch“, lachte sie, „doch, ich bin sehr liebenswürdig, aber die Nichte nicht. Ich bin die Tante, hallo.“
Sie streckte ihm die Hand hin, und er ergriff sie. Er hat große Hände, bemerkte sie, mit breiten Fingern, und man sieht die Adern auf dem Handrücken.
„Hat die Tante auch einen Namen? Ich heiße Zeus“, sagte er. „Ich bin Leto. Es ist schön, deine Bekanntschaft zu machen“, gab sie zurück. „Kommst du aus der Gegend?“
Für einen winzigen Augenblick hatte sie das Gefühl, dass Zeus' Blick sich umwölkte, aber dann lachte er, als habe sie etwas höchst Treffendes gesagt, dass sie selbst aber nicht verstehen konnte.
„Ja“, stimmte er zu, „ja, man kann sagen, ich komme aus der Gegend. Und du, bist du auch von hier?“
„Na, nicht ganz“, sagte sie zögernd. „Ich komme ziemlich weit herum auf der Flucht vor meiner Monsternichte, wenn man so will. Aber ich mag es hier sehr gern, es ist hübsch und friedlich.“
Sie streckte die Hand aus und fing die ganze Szenerie ein, und er folgte mit den Augen mehr ihrem schlanken Arm, als dass er sich die Umgebung anschaute, aber er stimmte zu.
„Noch...“ murmelte er.
„Was hast du gesagt?“
Leto blickte ihn fragend an, aber er hatte den Kopf abgewandt. Sie schaute direkt auf die kurzen Locken, die sich in seinen Nacken ringelten, und pustete unwillkürlich zart dagegen. Sofort biss sie sich auf die Lippen und errötete; was hatte sie sich nur gedacht? Zeus' Kopf ruckte herum: Von seiner kurzen Verstimmung war keine Spur mehr zu sehen. Er blickte auf ihren Mund, eine Augenbraue hochgezogen, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen. „Nichts.“
Dann stand er auf, griff ihre Hand und zog sie auf die Beine. „Wenn du das hier schon schön findest, zeig ich dir noch einen anderen Flecken, ja?“
Er behielt ihre Hand gleich für sich, zog sie unter seinem Ellenbogen hindurch und bettete sie auf seinen Unterarm, während er seine andere Hand warm auf ihren Fingern ruhen ließ.
Leto wunderte sich, woher diese Vertrautheit rühren mochte; es fühlte sich gut an, bei Zeus eingehakt durch den Sonnenuntergang und die junge Nacht zu wandern. Verstohlen sog sie seinen Geruch ein. Er war beruhigend und aufregend gleichermaßen, genau wie seine Berührung und seine Blicke. Ihre Fingerspitzen spielten miteinander, und hin und wieder blickten sie sich an, lächelten, und Zeus drückte ihren Arm sekundenlang eng an seine Seite.
Als schließlich der Mond die Insel in sein silbriges Licht tauchte, musste Leto sich gewaltsam davon abhalten, Zeus die ganze Zeit anzustarren. Glücklicherweise schien er von ähnlichen Problemen geplagt, und als sich einmal mehr ihre Blicke kreuzten und sie beide unwillkürlich rasch fortschauten, lachte er leise auf. Er legte seine Hand unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht wieder zu sich, um sie ausgiebig anzuschauen, und zu ihrem Erstaunen wurde sie nicht einmal rot, sondern genoss es, ihn so genau mustern zu können. Erst, als sie zu stolpern begannen, weil sie nicht mehr auf den Weg geachtet hatten, rissen sie ihre Blicke voneinander los, um sich nur mehr alle Augenblicke durch ein Lächeln zu verständigen.
Sie sprachen nicht viel, als sie begleitet vom Zikadenchor über die Insel wanderten. Ihre Äußerungen beschränkten sich größtenteils auf Bemerkungen über die Landschaft oder die Sterne; beide waren zu erfüllt vom Staunen über das, was da gerade mit ihnen geschah, und von einem überraschenden, überschwänglichen Glücksgefühl.
Leto stellte fest, dass sie nicht wissen wollte, ob er ein Titan war wie sie oder eins von Prometheus' Geschöpfen, den Menschen. Sie vermutete zwar den Titan in ihm, weil er ihr so umwerfend erschien, aber sie würde nicht fragen. Hier und jetzt war er perfekt, und was konnte er schon sagen, was ihn verbessern würde? Dass er ebenfalls nicht fragte, nahm sie nur noch mehr für ihn ein.
Irgendwann hörte Leto das Meeresrauschen lauter werden, sie blickte Zeus fragend an. „Ja, dahin wollte ich“, sagte er. „Bist du müde?“
Sie schüttelte den Kopf, so voller Energie war sie seit Kindertagen nicht mehr gewesen. „Ich könnte jetzt stundenlang laufen.“
„Klettern auch?“
Er zeigte nach vorn, wo der Mond den vor ihren Füßen zum Meer abfallenden Fels beschien.
„Klettern ganz besonders“, erklärte sie ihm. Sie zog ihre Hand von seinem Arm und machte sich gewandt an den Abstieg. Als Kind war sie leidenschaftlich gern in den Klippen herumgeturnt, warum hatte sie nur so lange nicht mehr daran gedacht? Sie fühlte ihr Herz klopfen, sog die Seeluft tief in die Lungen und setzte sicher die Füße und Hände auf den noch vom Tag warmen Stein. Kurz über ihr kletterte Zeus; sie gestattete sich einen ausgiebigen Blick auf seine kräftigen Waden und lachte leise, weil der Augenblick so verheißungsvoll war.
Am Strand angekommen, wartete Leto nicht auf Zeus, sondern lief direkt über die wenigen Meter Strand ins Meer, bis sie fühlte, wie das laue Wasser fast ihre Knie erreichte. Hier wurde es sehr schnell sehr tief. Der Saum ihres Kleides wurde nass, und es war ihr vollkommen egal.
Hinter sich hörte sie Zeus über den Sand laufen, und gerade, als sie sich nach ihm umdrehen wollte, hechtete er auf sie zu, packte mit den Händen ihre Taille und stürzte sie beide kopfüber ins Wasser. Spuckend und prustend kam Leto wieder hoch, wischte sich das Meerwasser aus den Augen und sah, wie Zeus direkt vor ihr auftauchte und die Haare nach hinten warf. Grinsend blickte er auf sie herab.
Sie keuchte. „Du bist doch...“ „...großartig?“
Er nahm ihr Gesicht in die Hände, beugte sich über sie und küsste sie. Seine Lippen waren nass, warm und salzig, und sein Atem streichelte ihre Wange. Der Kuss fühlte sich an wie alle Berührungen bisher: Aufregend, sehr innig und überraschend selbstverständlich. Ihre Zunge begrüßte seine, als sie langsam und genießerisch in ihren Mund glitt und sie streichelte. Ihre Hände hoben sich ganz von selbst und legten sich auf seine Brust.
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