1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Mutters Gesichtsaudruck veränderte sich. Sie schaute ihn schweigend an und Aron glaubte einen Schatten in ihren Augen zu erkennen, der vorher nicht da war. Sie wusste von der Umschichtung.
„Warum hat Vater das getan?“, bohrte er weiter.
Mutter antwortete nicht. Außer dem Ticken des Weckers war kein Laut zu hören.
Als Aron gerade Luft holte, um seine Frage zu wiederholen, sagte sie: „Ich weiß es nicht.“
Aron seufzte. „Mutter, bitte! Versuch dich zu erinnern. Hat Vater mit dir über die Umschichtung gesprochen?“
„Nein“, entgegnete sie, ohne ihn anzusehen.
„Hast du eine Erklärung dafür?“
„Aron, du musst eines wissen.“ Mutter war jetzt sichtlich erregt. „Die Umstände von Vaters Tod beschäftigen mich bis heute. Es gibt… so viele Fragen.“
„Was meinst du?“, fragte er ungeduldig. „Was für Fragen?“
„Willst du das wirklich hören?“
„Was hören?“
„Es ist nicht besonders schön, weißt du. Ich wollte dir das immer ersparen.“
„Mutter, bitte. Ich bin kein Kind mehr. Was ist mit Vaters Tod?“
Sie zögerte und schien mit sich zu ringen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht, ob wir wirklich darüber sprechen sollten. Ich möchte nicht, dass du dich sorgst.“
„Ich sorge mich mehr, wenn du Geheimnisse vor mir hast. Du kannst mir alles erzählen, ich bin schon groß.“
„Also gut“, sagte sie leise, und schaute ihn mit einem ängstlichen Blick an. Aron überkam ein ungutes Gefühl.
„In jener Nacht, in der Gerhard von uns gegangen ist, hat er sich von mir verabschiedet. Er hat mich geküsst und gesagt, dass es ihm leid tue und er uns für immer lieben werde. Und ich dachte, ich träume. Und als ich aufwachte, lag er mit dem Rücken zu mir. Ich wollte ihn wecken und ihm von meinem Traum erzählen, da spürte ich, dass er ganz kalt war.“
Mutters Gesicht wurde kalkweiß. Aron spürte, wie sich eine längst verscharrte Erinnerung in ihm rührte.
„Dein Vater ist einfach gegangen“, sagte sie tonlos. „Er hat uns verlassen, obwohl er uns so sehr geliebt hat und obwohl wir ihn so sehr gebraucht haben.“
Aron schloss die Augen. Er sah eine Kinderhand, nach Vater ausgestreckt, und er spürte die Kälte, die von dessen Körper ausging. Verstört öffnete er die Augen. Nach einem Moment der Besinnung sagte er: „Mutter, das kann doch nicht sein! Wie soll er das gemacht haben? Glaubst du, er hat Gift genommen?“
„Nein. Die Ärzte haben nichts gefunden. Es gab keine Anzeichen für eine Vergiftung. Sein Herz hat einfach aufgehört zu schlagen.“
„Hast du in den Tagen vorher nichts bemerkt?“, fragte er. „Hat er irgendetwas gesagt oder gemacht, was ein Anzeichen für eine Krise gewesen sein könnte?“
„Seit jener Nacht denke ich jede Stunde darüber nach“, sagte sie verbittert. „Mein Leben kreist seit 30 Jahren um nichts anderes. Es gab diese Aktienverkäufe, aber die können Zufall gewesen sein. Er hat doch oft Aktien gekauft und wieder verkauft.“
„Das war kein Zufall!“
„Aber warum hätte er sich das Leben nehmen sollen?“, fragte Mutter und schaute Aron flehend an. „Kein Vater verlässt freiwillig seine geliebte Familie!“
„Keine Ahnung, sag du es mir! Du warst seine Frau! Wenn du es nicht weißt, wer soll es dann wissen?“
Mutters Blick schien einen weit hinter der Wand liegenden Punkt zu fixieren. „Vielleicht gibt es eine Erklärung“, sagte sie leise.
„Was für eine Erklärung?“
„Vielleicht wurde er gezwungen.“
„Zu was gezwungen?“
„Sich das Leben zu nehmen.“
„Warum sollte ihn jemand zu so etwas zwingen?“
„Ich weiß es nicht. Mir spukt das manchmal durch den Kopf. Wahrscheinlich ist das Unsinn. Aber als ich an dem Tag nach Gerhards Tod über seine Abschiedsworte nachgedacht habe, dachte ich, er hätte etwas von einem anderen Auftrag gesagt, wegen dem er uns verlassen müsse. Aber vielleicht war das auch nur ein Traum, ein anderer Traum. Wie soll ich das nach so vielen Jahren noch wissen?“
„Kann es sein, dass Vater psychisch krank war?“, fragte Aron. „Irgendein Leiden, von dem du nichts gewusst hast? Verfolgungswahn, Schizophrenie, oder so etwas Ähnliches.“
„Daran habe ich natürlich auch gedacht. Aber Gerhard war immer so ausgeglichen. Er war nie bedrückt oder besorgt, er war nur… - ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.“ Mutter zögerte. „Ich kann es nur immer wieder sagen: Er war sehr klar, wenn du verstehst, was ich meine. Er wusste immer, was er sagt, er hat sich nie aufgeregt. Er war auch nicht launisch. So verhält sich doch kein psychisch kranker Mensch.“
„Keine Spur von Depressionen oder anderen Anzeichen für ein psychisches Leiden? Schlaflosigkeit, Schweißausbrüche, negatives Verhalten gegenüber anderen Menschen?“
„Überhaupt nicht! Er schlief immer sehr gut und an seinem Verhalten war nichts Negatives. Er war einfach, wie er war, und lebte das mit einer Selbstverständlichkeit, die ich manchmal fast unheimlich fand. Er konnte Dinge messerscharf beobachten. Er erkannte die wahren Absichten von anderen Menschen. Und er war der empathischste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Manchmal kam es mir vor, als sei er nicht von dieser Welt.“
„Dann war er ein guter Schauspieler“, erwiderte Aron. „Wäre er so mitfühlend gewesen, hätte er uns niemals verlassen!“
Mutter schwieg und Aron spürte, wie sich ihre Stimmung abermals veränderte. Vielleicht hätte er seine Gedanken besser für sich behalten.
„Du denkst also auch, dass er mich nicht mehr geliebt hat?“, fragte sie.
Aron nahm ihre Hand. „Nein, das denke ich nicht. Ich versuche nur zu verstehen, was damals geschehen ist.“
„Ja“, sagte Mutter bitter. „Natürlich versuchst du das zu verstehen. Ich versuche es seit 30 Jahren. Und du hast Recht. Wenn es kein natürlicher Herzstillstand war, der ihn uns genommen hat, dann muss ich davon ausgehen, dass er es mit mir nicht mehr ausgehalten hat.“
Aron dachte einen Moment über das Gesagte nach. Dann fragte er: „Warum hast du mir nie von Vaters letzten Worten erzählt?“
Mutter schaute auf und sah ihren Sohn empört an. „Hätte ich dir sagen sollen, dein Vater hat sich umgebracht? Wäre dir dein Leben dann leichter gefallen?“
„Nein, aber ich hätte dich besser verstanden. Du hast mich so gequält mit deinem Selbstmitleid. Ich habe dich gehasst dafür!“
„Ich wollte es dir erzählen, später. Aber dann war ich mir nicht mehr sicher, ob ich nicht doch nur geträumt hatte und Vater an einem Herzstillstand gestorben war.“
Aron schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Jetzt, da er die Geschehnisse jener Nacht wie einen Film vor seinem inneren Auge sehen konnte, wurde ihm klar, warum Mutter sich davon bis heute nicht erholt hatte.
„Ich muss mehr über Vater erfahren“, sagte er schließlich. „Vielleicht kann ich dann eine Antwort auf all die Fragen finden.“
Mutter schwieg und Aron schlug vor, einen Spaziergang durch den benachbarten Park zu machen. Die Dezembersonne stand tief und würde für ein schönes Licht zwischen den Bäumen sorgen.
Sie nahmen den Aufzug nach unten und sprachen über Belanglosigkeiten. Es war verblüffend, aber sobald Mutter mit den Gedanken in der Gegenwart war, wirkte sie deutlich älter. Sie hatte Schwierigkeiten, sich die Namen der anderen Heimbewohner und Schwestern zu merken. Mehrfach wirkte sie fast ein wenig verwirrt.
Aron schob Mutter die Rampe am Haupteingang hinunter und atmete tief durch. Die Luft war herrlich und die Sonne blinzelte durch die Bäume. Eine Weile gingen sie schweigend und lauschten dem Knirschen der Räder auf dem Kies. Dann kam Aron wieder auf Vater zu sprechen. „Kannst du dich an den Verkehrsunfall erinnern, den Vater ein paar Jahre vor seinem Tod hatte?“
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