1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Mutter dachte nach und schien plötzlich wieder zehn Jahre jünger zu sein. „Ja, ich erinnere mich. Die Ärzte haben sich zunächst große Sorgen um ihn gemacht, weil er schlimm aussah. Aber dann haben sich die Verletzungen als unkritisch erwiesen.“
„Ja, das habe ich in den Unterlagen gelesen. Die Ärzte waren verwirrt, wegen der schnellen Wundheilung.“
„Ja, sie waren so beeindruckt, dass sie Gerhard untersuchen wollten, aber er hat sich geweigert.“
„Warum hat er sich geweigert?“, fragte Aron.
„Er hat gesagt, er habe seinen Körper eben gut unter Kontrolle und die Untersuchung würde nichts bringen. Die Ärzte sollten lieber untersuchen, warum nicht bei allen Menschen der Körper so schnell verheilen würde. Das wäre für ihn interessant zu erfahren.“
„Sind seine Verletzungen denn wirklich so schnell verheilt? Vielleicht haben sich die Ärzte in der Klinik ja geirrt.“
Mutter sah ihren Sohn tadelnd an. „Die Ärzte haben sich nicht geirrt. Gerhard und ich haben damals viel über die Sache gesprochen. Er war ganz offen zu mir. Er schnitt sich extra mit einer Rasierklinge in den Finger und zeigte mir, wie sich die Wunde innerhalb von einer Stunde fast vollständig verschloss.“
Aron blieb stehen und schaute seine Mutter ungläubig an. „Das hat er wirklich getan?“
„Ja. Es war beeindruckend, aber auch nicht so sehr, dass ich Angst bekommen hätte.“
„Bist du der Sache nachgegangen?“, bohrte er weiter. „Hast du mal mit einem Arzt darüber gesprochen?“
„Als Gerhard die Untersuchung mehrfach verweigert hat, habe ich heimlich im Krankenhaus angerufen und gefragt, warum sie ihn untersuchen wollen. Sie haben gesagt, mein Mann habe so gute Heilungskräfte, wie sie es bisher nur bei ganz wenigen Patienten beobachtet hätten, und dass sie eine Ringuntersuchung mit diesen Patienten durchführen wollten. Mehr steckte wohl nicht dahinter. Das klang alles recht glaubwürdig, und als Gerhard dann mit dem Anwalt gedroht hat, haben sie aufgegeben.“
„Und du?“, fragte Aron. „Hast du keine weiteren Erklärungen von Vater verlangt?“
„Warum denn?“, sagte sie gelassen. „Er hat es mir doch erklärt. Was sollte er noch mehr tun? Und von dem Arzt wusste ich, dass es offensichtlich noch andere Menschen mit diesen Fähigkeiten gibt. Damit war die Sache für mich erledigt.“
Aron nickte und schwieg. Sie waren im Park bereits auf der dritten Runde und es fing schon an zu dämmern. In einer Stunde musste er am Bahnhof sein.
„Mutter, nach allem, was du mir erzählt hast und was ich den alten Unterlagen aus der Kiste entnehmen kann, glaube ich einfach nicht, dass Vater ein normaler Mensch war, der nur sehr viel Liebe geben und seinen Körper selbst heilen konnte. Mir scheint er vielmehr ein sehr außergewöhnlicher Mensch gewesen zu sein. Ein Mensch, der wahrscheinlich ein Geheimnis mit in den Tod genommen hat.“
„Ich habe immer gehofft, dass du das eines Tages sagen würdest“, erwiderte sie und blickte ihn über ihre Schulter hinweg an. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich du mich damit machst. Seit dreißig Jahren schwelt dieser Zweifel in mir. Er hat mein Leben bestimmt.“
„Bist du denn zu einem Schluss gekommen?“, fragte er und lenkte den Rollstuhl wieder in Richtung Haupthaus. „Hast du irgendeine Idee, was sein Geheimnis gewesen sein könnte?“
„Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist Gerhard an einem Herzstillstand gestorben, oder er hat es nicht mehr mit mir ausgehalten und sich deshalb das Leben genommen.“
„Glaubst du nicht, dass du dich etwas zu wichtig nimmst?“, fragte Aron. „Wenn er es wirklich nicht mehr mit dir ausgehalten hätte, dann wäre er zu Hause ausgezogen, so wie Millionen andere Väter auch, die ihre Familien verlassen. Wegen so etwas bringt sich doch kein Mann um.“
„Das habe ich mir ja auch immer eingeredet, aber ein Mann, der seine Familie liebt, bringt sich auch nicht um.“
„Es sei denn, er ist krank, todkrank oder psychisch krank.“
„Wenn er todkrank gewesen wäre, dann hätte er mit mir darüber gesprochen. Außerdem wäre das bei der Autopsie zum Vorschein gekommen. Und eine psychische Erkrankung hätte ich bemerkt.“
„Dann ist er eben doch an einem Herzstillstand gestorben“, sagte Aron gedankenverloren. „Aber komisch ist die Sache schon. Mir will nicht in den Kopf, warum er das Aktiendepot umgeschichtet hat.“
„Ach, Aron“, seufzte Mutter, „ich bin es inzwischen leid, darüber nachzudenken. Mein Leben ist gelebt und Gerhard kommt nicht wieder. Aber du hast mich heute glücklich gemacht. Dass du mir zuhörst und meine Zweifel verstehst, nimmt eine riesige Last von mir. Ich danke dir dafür.“
„Gerne, Mutter“, sagte er verlegen. „Ich bin selbst verwundert, dass ich mich früher nie für Vater interessiert habe.“
„Das brauchst du nicht. Es ist doch klar, so unglücklich und verzweifelt, wie ich gewesen bin. Du warst froh um jede Minute, die ich nicht wegen Gerhard gelitten habe. Bitte mach dir keine Vorwürfe.“
„Du bist also zu keinem abschließenden Urteil gekommen?“, versuchte er es noch einmal.
„Nein. Aber ich neige dazu, das zu glauben, was ich mir dreißig Jahre lang eingeredet habe: Gerhard ist an einem plötzlichen Herzstillstand gestorben. Das war auch die Meinung der Ärzte. Ich kenne mich inzwischen aber gut genug, um zu wissen, wie schnell die Zweifel zurückkommen werden.“
Sie hatten den Haupteingang erreicht. Aron begleitete seine Mutter noch in den Speisesaal, dann umarmten sie sich und er machte sich auf den Weg zum Taxistand.
10.12.2011: Die Verabredung
Im Zug ließ Aron noch einmal sein Gespräch mit Mutter Revue passieren. Irgendetwas in seiner Einstellung ihr gegenüber hatte sich verändert. Ein Teil seines Grolls war gewichen und hatte einer Art respektvollem Mitleid Platz gemacht. Zum ersten Mal in seinem Leben war er in der Lage, sich wenigstens ein bisschen in sie hineinzuversetzen. Ihre Schilderung der Geschehnisse in Vaters Todesnacht hatte ihn tief bewegt. Er bekam noch immer weiche Knie, wenn er daran dachte. Konnte es wirklich sein, dass Mutter die Verabschiedung geträumt hatte, während Vater starb? Ein solcher Zufall erschien ihm unmöglich. Oder verfügte Mutter über einen sechsten Sinn? Auch daran mochte er nicht recht glauben. Aber an was sollte er dann glauben? An einen Vater, der vor seiner Familie in den Tod flüchtet? Absurd! Es sei denn, Vater war gar nicht vor seiner Familie, sondern vor ganz anderen Menschen auf der Flucht. Vielleicht war er in irgendwelche Machenschaften verwickelt, von denen Mutter nichts wusste: Insiderhandel, Korruption, Industriespionage. Unwahrscheinlich, dachte er. Blieb neben einer natürlichen Todesursache nur noch ein psychisches Leiden als Erklärung, aber das hatte Mutter ja kategorisch ausgeschlossen. Doch was besagte das schon? Mutter konnte ihre Erinnerung in dreißig Jahren Trauer beliebig manipuliert haben. Er musste unbedingt weitere Zeitzeugen hören, um sich ein unabhängiges Bild machen zu können. Aber mit wem sollte er sprechen? Er könnte Mutters Schwester Anneliese anrufen, allerdings war von der keine besonders große Hilfe zu erwarten. Eine dröge Person, die er nie sonderlich gemocht hatte. Besser wäre es, mit direkten Bekannten von Vater zu sprechen, mit diesem hübschen jungen Mädchen zum Beispiel, dass immer noch in seinem Kopf herumspukte. Wie hieß sie noch gleich? Marie und irgendwas mit Haus. Hauswerk, Hauswohl, Hauswald. Ja, das war es: Marie Hauswald. Er musste versuchen, sie ausfindig zu machen. Am besten probierte er es mit dem Deutschland-Telefonbuch. Dort sollte er sie finden können, jedenfalls wenn sie inzwischen nicht geheiratet hatte. Wie wahrscheinlich war das? Sie musste heute Anfang Vierzig sein. Wie viele deutsche Frauen in diesem Alter tragen noch ihren Mädchennamen? Er hatte keine Ahnung.
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