Also doch eine Süchtige, dachte Aron. Nächtelang in der Kneipe jobben, um sich die Spielsucht zu finanzieren. Er verkniff sich einen Kommentar und fragte: „Du kannst von Spielbankgewinnen und einem Drei-Tage-Job leben, und das in Heidelberg?“
„Ich brauche nicht viel. Das Teuerste an meinem Leben ist meine kleine Wohnung mit Schlossblick - und ab und zu ein paar schöne Klamotten.“
Es fiel ihm als Finanzmann nicht schwer, schnell eine Hochrechnung aufzustellen. Mit dem Job als Kellnerin konnte sie vielleicht gerade die Wohnung bezahlen, wenn überhaupt. Alle anderen Ausgaben musste sie also mit Spielbankgewinnen finanzieren. War so etwas möglich, oder bezog sie noch aus einer anderen Quelle Geld, vielleicht Unterhalt von einem Ex-Mann?
„Spielst du ein System?“, fragte Aron. „Ein Kommilitone von mir hat mir einmal erzählt, es gäbe sichere Systeme, mit denen man langfristig Gewinne erzielen kann.“
„Ja, ich spiele ein System. Aber ich glaube nicht, dass es eines der Systeme ist, die dein Kommilitone gemeint hat, denn die funktionieren nicht.“
„Was für ein System spielst du dann?“, fragte er weiter.
„Da musst du schon selbst drauf kommen. Kein Pilzsammler verrät anderen den Ort, an dem er Steinpilze findet.“
Aron lachte. Sie prosteten sich zu und dann wechselte er zu einem anderen Thema, dass ihn in den letzten Tagen beschäftigt hatte. „Was hat dich eigentlich nach Heidelberg verschlagen? Für jemand aus Köln ist es ja nicht gerade naheliegend, in eine Kleinstadt zu ziehen.“
„So klein ist Heidelberg auch nicht, außerdem finde ich es sehr gemütlich hier. Ich habe wohl eine romantische Ader.“
„Und seit wann wohnst du hier?“
„Ich bin vor zehn Jahren hierher gezogen.“
„So ein Zufall, ich auch! Vor genau zehn Jahren. Darauf müssen wir anstoßen!“
Sie erhoben erneut ihre Gläser und schauten sich in die Augen. Dann sagte Marie: „Komm, Aron, lass uns ein paar Runden spielen. Anschließend unterhalten wir uns über deinen Vater.“
Sie gingen zur Kasse. Marie tauschte 200 Euro ein. Aron war vorsichtiger. Er hatte sich für diesen Abend ein Limit von 50 Euro gesetzt, mehr wollte er nicht aufs Spiel setzen.
Sie gingen zu den Spieltischen hinüber und Aron überprüfte, ob es an einem der Tische eine Serie gab. Überall waren schwarze und rote, gerade und ungerade Zahlen in unauffälliger Abfolge aufgetreten. Er musste also noch etwas warten und beschloss, zunächst Marie beim Spielen zuzusehen. Sie setzte auch auf die einfachen Chancen, schien aber nicht systematisch vorzugehen, denn sie spielte manchmal mit und manchmal gegen die Bank. Marie setzte grundsätzlich sehr spät, immer erst kurz bevor das Spiel geschlossen wurde, aber das machten andere Spieler auch. Sonst fiel ihm an ihrer Spielweise nichts Besonderes auf. Sie gewann zwar mehr als sie verlor, aber das schien eher Zufall zu sein.
Dann ging Aron zu einem Tisch, an dem bereits fünfmal hintereinander ungerade Zahlen gekommen waren. Er setzte fünf Euro auf „Pair“. Marie folgte ihm und meinte, das sei keine gute Idee. Die Kugel fiel auf die Sieben und Aron war um fünf Euro ärmer. Aber jetzt war die statistische Wahrscheinlichkeit für eine gerade Zahl noch größer geworden und Aron verdoppelte den Einsatz, um seinen vorhergehenden Verlust kompensieren zu können. Die Kugel blieb auf der 23 liegen. Wieder nichts. Marie fragte mit süffisantem Ton, ob er nun wieder verdoppeln wolle. Aron wurde mulmig, aber er wollte sich keine Blöße geben und legte 20 Euro auf „Pair“. Dann wartete er gebannt darauf, dass die Kugel rollte. Sie tanzte über den Zahlenkranz und fiel schließlich auf die 13. Nach nur drei Runden hatte Aron 35 Euro verspielt. Jetzt konnte er nicht einmal mehr verdoppeln.
„Einmal versuche ich es noch, diesmal muss eine gerade Zahl kommen“, sagte er und legte 10 Euro auf „Pair“.
„Das wird nichts!“, prophezeite Marie, als die Kugel rollte. „Hör auf damit, dein System kann nicht funktionieren!“
Marie sollte Recht behalten. Ärgerlich schaute Aron zu, wie seine 10 Euro vom Tisch geräumt wurden. Er wollte gerade seine letzten fünf Euro auf „Pair“ setzen, da hielt ihn Marie am Arm fest. „Mach mal eine Pause. Es wäre doch schade, wenn unser Spiel schon zu Ende wäre!“
Aron zögerte einen Moment, dann steckte er den Chip wieder in seine Jackettasche. Sie beobachteten die weitere Zahlenfolge: 1, 15, 20.
„Mit der Verdopplungsstrategie kommst du nicht weit!“, sagte Marie. „Solche Serien laufen oft viel länger, als du dir vorstellen kannst, und häufig wird dann auch noch mitten in eine Serie hinein der Tisch geschlossen. Und was machst du dann?“
Aron war ziemlich kleinlaut geworden. „Das ist mir schon klar“, sagte er. „Aber irgendeinen Anhaltspunkt brauche ich, um zu setzen. Einfach aus dem Bauch heraus ist es mir zu langweilig, da kann ich ja gleich eine Münze werfen.“
„Versuch mal mein System!“, sagte Marie.
„Okay, wenn du es mir zeigst“, erwiderte Aron, ohne es wirklich ernst zu meinen. Er hatte Marie vorhin beobachtet und kein System erkennen können.
Sie schob Aron an einen Tisch heran und sagte: „Warte, bis ich dir die Zahl nenne, und dann setzt du alles oder nichts! Wenn es schief geht, bekommst du die fünf Euro von mir zurück.“
Aron nickte, und kurz bevor der Croupier das Spiel schloss, flüsterte Marie: „Neun.“ Aron legte schnell seinen Chip auf die verwaiste Neun und schaute gebannt auf die Kugel, die sich auf einer immer enger werdenden Umlaufbahn dem Zahlenkranz näherte. Und dann traute er seinen Augen nicht. Das konnte nicht sein! Die Kugel fiel auf Neun, rot! Aron schaute Marie fassungslos an. Marie grinste.
„Das war Glück! Gib zu, dass das Glück war!“, entfuhr es ihm.
„Denk, was du willst, Aron. Hauptsache, du bist wieder im Spiel.“
Aron nahm seinen Gewinn von 175 Euro entgegen. Ein älterer Mann, der schon bei der langen Serie von ungeraden Zahlen viel Geld verloren hatte, raunte Aron zu, er hätte wohl heute seinen Glückstag. Aron nickte nur und sagte an Marie gerichtet, er brauche jetzt erstmal eine Pause und einen Drink.
Sie setzten sich wieder an die Bar und Aron bestellte zwei Gläser Rotwein.
„Danke, Marie, da hast du mir eben wirklich Glück gebracht. Wenn du mich beeindrucken wolltest, hättest du es nicht besser anstellen können.“
Marie strahlte Aron an. „Dein Gesicht war einfach herrlich, als die Kugel auf der Neun zum Liegen kam.“
„Das war aber Glück, oder hast du ein besonderes Verhältnis zum Croupier?“, fragte er scherzhaft und zwinkerte ihr zu.
„Wir können das beliebig oft wiederholen, allerdings käme ich dann bald in keine Spielbank mehr rein. Ich muss mein System sehr behutsam einsetzen!“
Aron glaubte immer noch an einen Scherz, Marie schien es aber vollkommen ernst zu meinen, denn sie verzog keine Miene.
„Ich habe dir vorhin beim Setzen zugesehen“, sagte er. „Du spielst gar kein System und du hast mehrmals verloren. Die Neun war also reines Glück.“
„So, glaubst du? Dann schau jetzt mal genau hin! Achte einfach auf meine Finger.“
Sie stand auf und ging zum nächsten Spieltisch hinüber. Kurz bevor der Croupier die Kugel beschleunigte, zeigte Marie hinter ihrem Rücken unauffällig das Victory-Zeichen. Aron sah kurz darauf, wie auf der Anzeigetafel über dem Spieltisch die Zwei angezeigt wurde. Was, zum Teufel, geht hier vor, dachte er, während er Marie zu einem anderen Tisch gehen sah. Im nächsten Moment winkte sie ihn heran. Er stand auf und ging rüber zu ihr. Sie raunte ihm ins Ohr: „Neunundzwanzig.“
Fassungslos sah Aron, wie die Kugel auf der 29 zum Liegen kam. Sie probierten es noch an einem weiteren Tisch und wieder sagte Marie die richtige Zahl voraus. Es gab keinen Zweifel, sie konnte die Zahlen vorhersagen. Entweder war Marie eine Hellseherin oder sie gehörte zur Mafia und stand in engem Kontakt mit den Croupiers. Letzteres erschien im wahrscheinlicher.
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