1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Einer spontanen Eingebung folgend zog er sein Smartphone aus der Tasche und prüfte die Netzqualität. Guter Empfang. Er öffnete die Seite des Online-Telefonbuchs und gab „Marie Hauswald“ in die Suchmaske ein. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Eingetragen waren deutschlandweit nur zwei Personen mit diesem Namen. Allerdings gab es noch weitere fünf M. Hauswald. Das war trotzdem ein sehr übersichtliches Ergebnis.
Aron schaute sich die beiden Marie Hauswalds näher an und konnte es kaum glauben. Eine von beiden war in Heidelberg gemeldet. Ohne lange zu überlegen, klickte er ihre Nummer an. Die Verbindung wurde aufgebaut und kurz darauf meldete sich eine freundliche Frauenstimme mit „Hallo“.
„Guten Abend, mein Name ist Aron Breuer. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich bin auf der Suche nach einer Freundin meines Vaters aus Köln. Ihr Name ist Marie Hauswald.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment Stille, dann hörte er sie sagen: „Aron? Aron Breuer, der Sohn von Gerhard Breuer?“
Aron wäre fast das Telefon aus der Hand gefallen. Das war doch nicht möglich! Ein Anruf - und schon hatte er sie!
„Ja, der bin ich“, sagte er unsicher. „Und sie sind Marie Hauswald?“
„Ja, natürlich. Es freut mich, dass Sie sich melden. Was verschafft mir die plötzliche Ehre Ihres Anrufs?“
Aron war so perplex, dass er ein paar Sekunden brauchte, um Anlauf zu nehmen.
„Also, ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll. Vielleicht brauche ich Ihnen auch gar nicht viel zu erklären, Sie scheinen sich ja noch an meinen Vater zu erinnern.“ Er hielt inne und hoffte, Frau Hauswald würde das Wort ergreifen. Sie tat ihm den Gefallen.
„Natürlich erinnere ich mich an Ihren Vater, aber warum kommen Sie erst jetzt zu mir, nach dreißig Jahren?“
Aron dachte nicht lange nach, und legte instinktiv die Karten offen auf den Tisch.
„Ich habe letzte Woche im Keller alte Unterlagen von meinem Vater gefunden, und die haben mich neugierig gemacht.“
„Neugierig gemacht“, echote sie, und es klang nicht wie eine Frage.
„Meine Mutter hat mir von Ihrer Freundschaft zu meinem Vater erzählt. Bitte verzeihen Sie, wenn ich so direkt bin, aber diese Freundschaft interessiert mich. Ich würde mich gerne mit Ihnen über meinen Vater unterhalten.“
„Das haben Sie aber sehr nett gesagt. Sind Sie immer so diplomatisch?“, fragte Marie Hauswald in einem Ton, der durchaus als Flirtversuch verstanden werden konnte.
„Nein, nur heute, Ihnen zuliebe“, entgegnete er, und ahmte ihren Tonfall nach.
„Das ist aber nett, Herr Breuer“, erwiderte sie fröhlich. Dann wurde sie wieder ernster. „Um ehrlich zu sein, es wundert mich nicht, dass Sie mich anrufen. Ich hatte schon viel eher damit gerechnet. Sie brauchen mir auch nichts zu erklären, ich bin im Bilde. Ich war sehr gut mit Ihrem Vater bekannt und helfe Ihnen gerne.“
„Das freut mich. Können wir uns denn kurzfristig treffen? Es ist ja ein schöner Zufall, dass wir beide in derselben Stadt wohnen.“
„Klar.“
„Wann hätten Sie Zeit? Bei mir passt es am besten abends nach 18 Uhr oder am Wochenende.“
Ohne zu zögern antwortete sie: „Wie wäre es mit Dienstagabend? Da fahre ich nach Bad Dürkheim in die Spielbank. Wir könnten uns um 19 Uhr dort treffen, unser Glück beim Roulette versuchen und anschließend noch ein Glas Wein zusammen trinken. Was halten Sie davon?“
Aron überlegte. Er hatte am Dienstagabend nichts vor und konnte durchaus nach der Arbeit rüber in die Pfalz fahren. Außerdem fand er ihr Angebot recht originell.
„Also gut, treffen wir uns am Dienstag um sieben in der Spielbank“, sagte er.
„Perfekt. Dann also bis Dienstag.“
Aron schob sein Handy zufrieden in die Jackentasche. Das war ja einfach gewesen. Vielleicht zu einfach, schoss es ihm durch den Kopf, und für einen kurzen Moment spürte er eine seltsame Verunsicherung. Warum stieß er auf so viele Menschen aus Heidelberg, seit er der Spur seines Vaters folgte? Es musste eine logische Erklärung für diese eigenartige Ansammlung von Zufällen geben. Vielleicht würde er am Dienstag mehr darüber erfahren.
„Ich liebe dich“, sagte Nora und ergriff seine Hand.
Ich liebe dich auch, dachte Robert und schwieg.
Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sie zu küssen. Doch er drückte nur ihre Hand und sah sie schweigend an. Warum musste er sich ausgerechnet jetzt in Nora verlieben, jetzt, da doch alles glatt zu laufen begann und sein Ziel in greifbare Nähe rückte?
Er blickte sie an: „Sehen wir uns morgen?“
Nora verneinte. Sie müsse morgen ihrem Vater in der Praxis helfen und habe daher in der Fabrik ihre Abwesenheit angekündigt.
Robert nickte. Für ihn bedeutete das, morgen in der Fabrik ein Problem weniger zu haben. Trotzdem war er nicht froh darüber. Er mochte Nora wirklich, wahrscheinlich liebte er sie sogar, vom ersten Tag an, als sie ihm vor einem Jahr als neue Mitarbeiterin im Schreibbüro vorgestellt worden war. Er war sofort von ihr fasziniert gewesen, von ihrem außergewöhnlich hübschen Gesicht und dem fast magischen Grün ihrer großen Augen. Von diesem Tag an war er ständig auf der Suche nach Gründen gewesen, im Schreibbüro vorbeizuschauen. Aber Nora hatte auch etwas rätselhaftes an sich, dass ihn verunsicherte. Und musste sie mit 35 Jahren nicht längst verheiratet sein?
Diese Frage war aber nicht der einzige Grund, warum es Robert schwer fiel, sich seine Liebe zu Nora einzugestehen. Er hatte schlichtweg andere Pläne. Seit er vor zwei Jahren als Konstruktionsleiter bei der Fabrik für Chirurgische Instrumente von Theodor Haug in Heidelberg angefangen hatte, war es für ihn sehr gut gelaufen. Er verstand sich von Beginn an ausgezeichnet mit Herrn Haug und erfuhr jegliche Art der Förderung. Das betraf auch sein Privatleben, denn Theodor Haug schritt nicht ein, als sich dessen Tochter Luise, die potenzielle Alleinerbin der Fabrik, in Robert verliebte. Das war vor ungefähr einem Jahr passiert, schicksalhafter Weise zur gleichen Zeit, zu der er auch Nora kennengelernt hatte. Luise war Aron scheinbar zufällig auf dem Gang vor Haugs Büro über den Weg gelaufen. Sie hatte ihn ohne Umstände angesprochen und gefragt, ob er der Konstruktionsleiter sei, über den Vater zu Hause so viel Positives erzählen würde. Robert hatte verlegen reagiert, auch weil er sofort gespürt hatte, dass er der Tochter seines Chefs gefiel. Zwar war sie nicht unbedingt sein Typ, aber sie war jung, klug, humorvoll und wohlhabend. Vier gute Gründe, ihr Interesse nicht zu ignorieren. Außerdem war sie sehr ehrgeizig. Luise hatte in Rekordzeit an der Universität Heidelberg Jura studiert und anschließend eine Anstellung in der größten Kanzlei Heidelbergs angenommen. Nebenbei half sie ihrem Vater in der Fabrik bei strategischen und juristischen Fragen. Robert war beeindruckt von ihrer Zielstrebigkeit und Energie. Sie war eindeutig eine gute Partie und sie wurde ihm auf dem Silbertablett präsentiert. Und doch vergingen nach ihrem ersten Treffen im Gang vor Haugs Büro sechs Monate, bis sie sich zum ersten Mal küssten. Kurz darauf folgte eine Einladung zum Abendessen in das Privathaus von Familie Haug, und seit jenem Abend stand eine Heirat zwischen Luise und Robert unausgesprochen im Raum. Vater Haug strahlte aus jeder Pore den Wunsch aus, Robert möge seiner Tochter endlich einen Heiratsantrag machen und damit zum Firmenchef in spe aufsteigen. Ein reizvoller Ausblick, der Robert nah an sein Ziel herankatapultierte, sich und seiner Mutter zu beweisen, dass er doch kein Schwächling und Versager war, wie sein Vater immer behauptet hatte.
Allerdings ging Robert seit einem halben Jahr auch mit Nora Losberg aus. Bislang war es dabei noch nicht zum Austausch von Zärtlichkeiten gekommen, aber Nora hatte offensichtlich vor, das zu ändern und ihre Beziehung auf eine verbindlichere Basis zu stellen. Sie war von Anfang an sehr zielstrebig vorgegangen und hatte Robert schon bald mit ihrer Familie bekannt gemacht. So hatte er bei einem gemeinsamen Abendessen in einer Heidelberger Gaststätte auch Noras Vater kennengelernt, einen Psychologen, der im eigenen Haus eine kleine Praxis betrieb. Robert war beeindruckt gewesen von der warmen Ausstrahlung dieses Mannes. Die ganze Familie war an jenem Abend sehr herzlich und liebevoll gewesen, auch im Umgang untereinander. Noras Eltern schienen vollkommen zufrieden und glücklich zu sein mit sich und ihrem Leben. Gleiches galt im Prinzip auch für Nora, allerdings glaubte Robert in ihren Augen den Hauch eines Schattens erkennen zu können, so als wäre da eine tief sitzende Furcht vor einer ungewissen Zukunft. Oder war es seine eigene Unsicherheit, die sich in ihren Augen spiegelte?
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