„Die Zahl steht fest, bevor der Croupier wirft?“
„Natürlich! Hast du mich nicht beim Spielen beobachtet? Wie soll ich gewinnen, wenn ich nicht setze, bevor der Croupier wirft?“
„Logisch, aber für mich schwer vorstellbar. Bevor ich das glauben kann, müssten wir ein paar Experimente durchführen. Kannst du zum Beispiel die Zahl auch vorhersagen, wenn der Croupier gar nicht werfen wird? Er könnte einen Herzstillstand erleiden oder die Kugel könnte ihm aus der Hand fallen und unter den Tisch rollen. Und während er auf dem Boden herumkrabbelt, um sie aufzuheben, stiehlt jemand den Teller und rennt damit davon. Hast du das dann auch vorhergesehen?“
Marie grinste. „Super Frage! Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Das wäre wirklich ein tolles Experiment. Lass uns das mal zu Hause probieren. In der Spielbank habe ich so was noch nie erlebt.“
„Dann behauptest du also im Ernst, die Regeln verstanden zu haben, welche die Zahlenfolge in der Spielbank bestimmen?“, fragte Aron, jetzt wieder ernsthafter.
„Ja.“
Aron schaute Marie herausfordernd an. „Und diese Regeln willst du mir natürlich nicht erklären, stimmt’s?“
„Genau, jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht irgendwann, wenn wir uns besser kennengelernt haben und ich mir sicher sein kann, dass du mich nicht verrätst.“
„Aber ich könnte dich doch jetzt schon verraten“, sagte Aron und schaute Marie aufreizend an.
„Ach was!“, entgegnete sie lachend. „Keiner würde dir glauben.“
Aron überlegte, ob er aufgeben sollte, doch dann fiel ihm ein, was er zu Beginn ihres Spiels beobachtet hatte.
„Du hast vorhin auch einige Runden verloren, so unfehlbar scheint dein System also nicht zu sein.“
„Ja, natürlich verliere ich ab und an. Mit Absicht. Meinst du, ich will hier auffallen? Wie ich schon sagte, muss man behutsam vorgehen, wenn man ein Geheimnis zu hüten hat.“
Aron lächelte und schaute Marie lange in die Augen. Was war das nur für eine Frau? Marie schien abermals zu spüren, was er dachte.
„Aron, bitte mach keine so große Sache daraus. Es ist für dich nur einfach ungewohnt, was du eben erlebt hast.“
„Keine große Sache? Du bist gut. Hast du eine Ahnung, was andere Menschen darum gäben, deine Fähigkeit zu besitzen?“
„Ja, schon klar, aber das ist dumm! Jeder hat im Prinzip diese Fähigkeit, aber nur wenige wenden sie an.“
„Das glaube ich nicht. Jeder Mensch mit derartig hellseherischen Fähigkeiten würde sie anwenden.“
„Dann lass es mich anders formulieren: Warum, glaubst du, sind die Menschen so scharf darauf, die Roulette-Zahlen vorhersagen zu können?“
„Aber das ist doch klar! Sie wollen einen finanziellen Vorteil daraus ziehen.“
„Und warum?“
„Na ja, Geld kann man doch nie genug haben, oder?“
„Warum? Wofür brauchen die Menschen das Geld?“
„Um sich ihre Träume zu verwirklichen. Ein großes Haus kaufen, ein tolles Auto, einen schönen Urlaub. Solche Dinge eben. Das weißt du doch selbst. In vielen Fällen könnte es auch helfen, echte Not zu lindern. Viele Menschen leben in bitterer Armut. Muss ich dir das wirklich erklären?“
„Ich möchte nur, dass du dir darüber klar wirst, warum die Menschen das Geld haben wollen. Du denkst, sie wollen sich Dinge kaufen oder ihre Not lindern?“
„Ja, natürlich. Und sie wollen unabhängig sein, nicht mehr arbeiten müssen, keinen Chef haben, machen, was sie wollen.“
„Und das können sie ohne Geld nicht tun?“
„Nein. In unserer Welt ist man ohne Geld gar nichts. Marie, stell dich doch nicht so naiv! Sag mir lieber, worauf du hinauswillst.“
„Ich will darauf hinaus, dass nicht das Geld am Anfang steht, sondern das Verlangen nach etwas, das man machen möchte und sich wünscht.“
„Ja, aber das ist doch klar. Nur haben die meisten Menschen eben nicht genug Geld, um sich ihre Wünsche zu erfüllen.“
„Gut, Aron, dann sag mir doch mal, was du machen würdest, wenn du Geld hättest, ich meine richtig viel Geld.“
Aron musste einen Moment nachdenken. Die gute alte Lottofrage.
„Wenn ich eine Million hätte, dann würde ich sofort bei meiner Firma aufhören und selbst ein Unternehmen gründen. Oder gib mir 10 Millionen, dann kaufe ich unsere Firma und mache daraus ein Unternehmen, wie es früher einmal war.“
„Verstehe. Du hättest also gerne ein eigenes Unternehmen, das du nach deinen eigenen Regeln führen kannst.“
„Klingt doch gut, oder?“
„Und warum hast du keines?“
„Sagte ich doch eben. Weil ich nicht genug Geld habe. Ich hatte bisher im Leben nicht besonders viel Glück mit Geld. Nicht, dass es mir schlecht ginge, aber für wirklich große Sprünge reicht es nicht.“
„Das glaube ich dir nicht. Ich denke eher, dass du kein eigenes Unternehmen hast, weil du dich nicht auf den Weg gemacht hast, eines zu besitzen. Du benutzt das Geld als Alibi, dein bisheriges Versagen in Bezug auf deine Zielerreichung zu erklären.“
Aron rutschte unbehaglich auf seinem Barhocker hin und her. Marie hatte ihn genau getroffen. Er ärgerte sich über ihre direkte Art, wusste aber nichts zu entgegnen.
„Entschuldige, Aron, bitte nimm es nicht persönlich. Ich habe das nur so deutlich gesagt, damit du verstehst, was ich meine. In unserer Gesellschaft ist das Gerede von Glück und Pech und fehlendem Geld meiner Meinung nach eine Ausrede der Menschen, weil sie nicht wissen, was sie wirklich wollen. Sie lassen sich einfach treiben und treffen keine Entscheidungen. Das Schicksal trifft die Entscheidungen für sie. Es geht aber auch anders. Es gibt Menschen, die wissen, wohin sie wollen. Sie arbeiten mit positiven Gedanken an der Verwirklichung ihrer Ziele. Auf andere wirken diese Menschen, als fiele ihnen alles in den Schoß, oder, wie du es nennen würdest: Sie haben Glück, sie sind vom Zufall begünstigt, weil ihnen die Dinge zufallen. In Wahrheit glauben sie nur tief in ihrem Inneren daran, das Erstrebte zu verdienen. Ihr Glaube versetzt für sie Berge.“
Aron musste an seinen alten Schulfreund Tom Hanke denken, den er schon länger nicht mehr gesehen hatte und der mit 22 Jahren in die USA ausgewandert war. Schon zu Schulzeiten hatte er prophezeit, einmal sehr reich zu werden. Der Weg dahin war ihm vollkommen egal, er sagte nur, er wolle eines Tages im Geld baden können. Aron sah noch das Bild aus einem Donald-Duck-Heft vor sich, das sein Freund über das Bett gehängt hatte. Darauf war Onkel Dagobert zu sehen, der in seinem Geldspeicher herumschwamm. Schon ein paar Monate nach seiner Abreise in die USA erzählte sein Freund am Telefon, es liefe alles wie am Schnürchen - und Aron solle doch auch rüberkommen, aber Aron war nicht mutig genug. Dann hörte er lange nichts von seinem Kumpel. Vor etwa fünf Jahren erhielt er eine Karte aus den USA. Darauf war sein Freund in einem Whirlpool zu sehen, der bis zum Überlauf mit Münzen und Geldscheinen gefüllt war. Tom sah aus wie Onkel Dagobert in seinem Geldspeicher und grinste über das ganze Gesicht. Auf der Rückseite stand nur: Ich habe es geschafft! Grüße, Tom!
Aron musste innerlich lächeln, als er an diese Geschichte dachte. Er war damals ein bisschen neidisch gewesen und hatte seinen Freund für dessen eisernen Willen und Mut bewundert. Aron überlegte, ob er Marie die Geschichte erzählen sollte, sagte aber nur: „Du hast Recht, solche Menschen gibt es. Und ich habe mich oft gefragt, wie die das machen. Alles geht ihnen leicht von der Hand, nie haben sie Zweifel oder eiern herum. Sie gehen einen geraden Weg.“
„Der Weg ist nicht immer unbedingt gerade, aber im Prinzip hast du Recht. Und du könntest es genauso machen. Was glaubst du, was dir diese Menschen voraus haben? Sind sie nicht aus dem gleichen Stoff gemacht wie du? Eine chemische Analyse der Zusammensetzung eurer Körper ergäbe eine hundertprozentige Übereinstimmung. Was ist also anders an ihnen?“
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