Wie alles im Leben hatte aber auch diese Medaille zwei Seiten. Hugenbach war Tag und Nacht für seine Firma da. Seine Familie machte das sehr lange mit, aber nachdem die Kinder ausgezogen waren, kam es zum großen Knall. Aron kannte die Details nicht, aber die Scheidung artete wohl zu einem Rosenkrieg aus, an dessen Ende Hugenbach keine andere Wahl hatte, als die Firma zu verkaufen, um seine Frau auszubezahlen. Das passierte ausgerechnet im Jahr 2008, als eine schwere Wirtschaftskrise die Welt erfasste. Für einen viel zu niedrigen Preis übernahm schließlich die deutsche Private-Equity-Gesellschaft PEF Hugenbachs Anteile. Der Firmengründer verschwand daraufhin mit seiner neuen Freundin nach Südfrankreich, um sich zukünftig mit Philosophie und Antiquitäten zu beschäftigen.
Seitdem musste sich Aron mit einem neuen Chef herumschlagen: Peter Schneider, eingesetzt von PEF, um die Rendite von Huform auf Vordermann zu bringen. Als erste Amtshandlung schaffte Schneider die gleichteilige Mitarbeiterausschüttung ab und wandelte sie in ein Bonussystem für das Management um. Zusätzlich wurden Stellen gestrichen und Leute entlassen. Das übliche Programm.
„Eigentlich geht es uns doch um etwas ganz anderes“, sagte Jan. „Es ist mir egal, ob die Verlagerung der Produktion in ein Billiglohnland gut für die Rendite ist oder nicht. Es geht mir um die Identifikation, um uns, um dich und mich, um Betti und die Jungs an den Maschinen. Bist du noch stolz, wenn du morgens in die Firma kommst? Freust du dich, wenn unser Geschäftsführer im Haus ist?“
Aron gab keine Antwort.
„Ich sage dir was“, fuhr Jan fort. „Wenn wir jetzt nicht die Kurve kriegen und uns etwas einfallen lassen, dann hau ich ab. Ich werde nicht zuschauen, wie das alles hier vor die Hunde geht, was ich mit Hugenbach in 20 Jahren aufgebaut habe. Eigentlich habe ich mir das schon viel zu lange angeschaut. Und du sitzt immer noch da und verteidigst die Investoren und sprichst von Rendite. Klar, das mag ja alles richtig sein, aber wo bleiben wir? Wo ist unsere Rendite?“
„Mein Gehalt hat sich nicht schlecht entwickelt, seit Hugenbach weg ist“, entgegnete Aron trotzig. „Darüber kann ich mich wirklich nicht beklagen.“
„Du nicht, du bekommst ja deinen Bonus. Aber was ist mit den anderen, mit den Jungs und Mädels bei mir unten? Außerdem denke ich dabei nicht nur ans Geld. Ich will mich mit meiner Arbeit identifizieren und sie soll auch einen Sinn haben. Jetzt arbeite ich nur für unsere gierigen Investoren, die sowieso schon randvolle Taschen haben. Verstehst du nicht, was ich meine?“
„Klar verstehe ich, was du meinst, aber die Zeiten ändern sich nun mal.“
„Tun sie das wirklich? Ich glaube, die Menschen haben die Schnauze voll von der reinen Fokussierung auf Rendite. Ich sage dir: Hugenbach war seiner Zeit um Jahre voraus. Das ist es, was wir Schneider beibringen müssen!“
„Sei doch nicht naiv, Jan. Schneider kann doch nicht herummenscheln, wie es ihm gerade passt. Der muss sein Budget erfüllen, sonst ist er weg vom Fenster!“
Jetzt war es Jan, der schwieg.
Aron lenkte ein: „Aber du hast ja Recht. Es wäre mir auch lieber, wenn wir wieder so arbeiten könnten wie unter Hugenbach. So schlecht war die Rendite der Firma damals auch nicht. Ich konnte jedenfalls gut damit leben.“
„Klar, ich auch“, stimmte Jan zu.
Für einen Moment schwiegen beide, dann fuhr Jan fort: „Wir waren durch die Übernahme so eingeschüchtert, dass wir alles gemacht haben, was Schneider von uns verlangt hat. Damit muss jetzt Schluss sein! Es bringt nichts, abzuwarten und auf bessere Zeiten zu hoffen. Wir müssen die Realität anerkennen. Es wird nicht besser, es wird immer nur schlechter. Wir entfernen uns immer weiter von dem, was uns Spaß und Freude macht. Lass uns innehalten und wirklich überlegen, was wir ändern können.“
„Klingt toll. Aber ich sage dir: solange Schneider das Sagen hat, ändert sich gar nichts“, entgegnete Aron.
„Woher weißt du das? Hast du mal mit ihm darüber gesprochen? Kennst du seine Meinung zu den Dingen? Hast du ihn jemals in eine Diskussion verwickelt?“
„Das ist gar nicht notwendig. Er sagt doch genau an, wo es langgeht. Mit seinen Vorstellungen hat er ja nie hinter den Berg gehalten.“
„Aber hast du ihm mal erklärt, was diese Firma unter Hugenbach ausgemacht hat und warum wir so ein verschworener Haufen waren? Ein Haufen, der ihm bald auseinanderlaufen wird.“
„Nein, hab ich nicht.“
„Dann wäre es vielleicht mal an der Zeit, das zu tun, schließlich bist du am nächsten an ihm dran. Und wenn du es nicht tust, dann tue ich es.“
„Ich denke darüber nach, Jan. Lass uns jetzt bitte über etwas anderes sprechen.“
„Okay, wie wäre es mit dem Thema Frauen?“ fragte Jan grinsend.
Aron verzog das Gesicht. Warum quälte Jan ihn heute so beharrlich? Er hatte doch sowieso schon ein latent schlechtes Gewissen seinen Kollegen gegenüber. Noch mehr schämte sich Aron aber vor sich selbst. Schneider hatte ihn damit betraut, die Umsetzung der bereits beschlossenen Kostensenkungsprogramme zu kontrollieren und zu verfolgen. Da blieben Konflikte mit der Belegschaft nicht aus. Einige Kollegen hatten ihn bereits als Schergen des Teufels bezeichnet. Aber bisher war der Ärger mit den Kollegen für ihn immer noch das geringere Übel gewesen, verglichen mit der Option, gegen seinen Chef aufzubegehren und seinen Job aufs Spiel zu setzen. Gut tat ihm das allerdings nicht. Aron merkte selbst, dass er so nicht weitermachen konnte, verschob aber die Entscheidung darüber, wie er seine Zukunft bei Huform gestalten wollte, von einem Monat zum nächsten und verdrängte seine Unzufriedenheit. Irgendwie gelang es ihm immer noch, ausreichend zu funktionieren und sein Arbeitspensum einigermaßen unbeschadet herunterzuspulen. Er näherte sich aber einem Punkt, an dem er nicht mehr weitermachen konnte. Jetzt noch einen Kostensenkungsplan gegen seine Kollegen und seine Überzeugung umzusetzen, würde er nicht durchstehen. Aber welche Alternative hatte er? Er musste Zeit gewinnen und in Ruhe darüber nachdenken.
„Lass uns morgen weiterreden“, sagte er. „Ich bin heute nicht gut drauf.“
„Ist okay, ich muss sowieso wieder in die Produktion“, erwiderte Jan. „Aber bitte tu etwas. Gib Schneider endlich Kontra, bevor es zu spät ist.“
„Ich denke darüber nach, Jan. Versprochen.“
Jan verließ das Büro und Aron blieb regungslos am Besprechungstisch sitzen. Er hörte das Blut in seinem Kopf rauschen. Sein Herz schlug schnell. Was wollten sie nur alle von ihm? War er der Heiland? Er musste hier raus! Er konnte morgen seine Kündigung einreichen, seinen Schreibtisch räumen und drei Monate Urlaub machen. Wer hinderte ihn daran? Aron gefiel die Idee. Sie würde ihn auf einen Schlag von 50 Prozent seiner Sorgen befreien. Jedenfalls vorerst. Aber was sollte er nach dem Urlaub tun? Von irgendetwas musste er schließlich leben. Er verwarf die Idee mit der Kündigung und machte sich daran, die Präsentation für Schneider fertigzustellen, diesmal aber als ungeschönte Version, mit einigen kritischen Kalkulationen zur Produktionsverlagerung. Am nächsten Morgen schickte er die Datei mit zittrigen Fingern ab.
Aron musste bis Freitag auf ein Feedback von Schneider warten. Als er am Nachmittag endlich zu seinem Chef vorgelassen wurde, war er nervös. Doch das Gespräch dauerte nicht einmal fünf Minuten und nahm einen vollkommen unerwarteten Verlauf. Schneider bedankte sich für die Präsentation und kündigte an, nächste Woche mit einer neuen Aufgabe auf Aron zuzukommen, nämlich mit der Vorbereitung eines Verkaufs von Huform. Dann entschuldigte sich Schneider, eilig zum Flughafen aufbrechen zu müssen, und versprach, Aron am Mittwoch nächster Woche über die Beschlüsse der PEF Gesellschafterversammlung zu informieren. Bis dahin solle Aron das Gesagte vertraulich behandeln.
Читать дальше