„Mutter, bitte, lass es gut sein. Es ist alles in Ordnung. Du brauchst dich nicht schlecht zu fühlen.“
„Schon gut, Aron, ich lass dich frühstücken. Wir sprechen nachher noch mal. Es war ja nur ein Traum.“
Mutter beendete das Gespräch und Aron starrte gedankenverloren auf sein Toastbrot. Seit Mutter im Seniorenheim lebte und ihre Depression dank regelmäßiger Medikation einigermaßen unter Kontrolle war, hatte sie nicht mehr von Vater gesprochen. Und jetzt fing sie ausgerechnet heute Morgen wieder von ihm an, nachdem er selbst von Vater geträumt hatte. Spontan beschloss er, nach dem Frühstück das besagte Fotoalbum zu suchen.
Vorher rief er aber noch Mutters Arzt an. Zu seiner Beruhigung wusste dieser zu berichten, dass Mutter keineswegs auf eine neue Episode zusteuere, sondern in einem sehr stabilen und ermutigenden Zustand sei.
Eine halbe Stunde später stand er in seinem muffig riechenden kleinen Kellerverschlag, den er bestimmt seit drei Jahren nicht mehr betreten hatte. Er musste nicht lange nach Mutters Sachen suchen. Mitten im Raum standen drei Kartons von einem Kölner Umzugsunternehmen. Das mussten die Kisten sein, die er aus der Kölner Wohnung seiner Eltern mit zu sich nach Heidelberg genommen hatte, als Mutter vor drei Jahren ins Seniorenheim umgezogen war.
In der ersten Kiste fand Aron nur altes Geschirr. Er stellte sie zur Seite und öffnete die zweite Kiste. Sein altes Kinderspielzeug. Es versetzte ihm einen Stich. Er erinnerte sich daran, wie er die Sachen zusammen mit Simone eingepackt hatte, um sie für ihre gemeinsamen Kinder aufzuheben, die sie damals noch zu kriegen beabsichtigten. War das jetzt schon wieder drei Jahre her? An seine Exfreundin Simone und ihre damalige Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft mit Kindern wollte er wirklich nicht erinnert werden. Er war inzwischen vom Kinderkriegen so weit entfernt wie die Erde vom Mond.
In der dritten Kiste fand Aron Aktenordner und lose Blättersammlungen. Er griff nach einen Ordner mit der Aufschrift „Börse 79-80“ und schaute hinein. Depotauszüge und Börsenorders. Sehr interessant. Er fragte sich, warum er diesen Ordner nicht kannte. Er hätte längst hineingeschaut, schließlich war er selbst an der Börse aktiv. Aron schob den Ordner zurück in die Kiste und zog einen anderen mit der Aufschrift „Zeitung“ hervor. Gleich vorne fand er eine ausgerissene Seite der „Zeitung am Abend“, auf der eine Geschichte abgedruckt war. „Die Geschichte von Space dem Geist“, Autor: Gerhard Breuer. Es wurde immer interessanter.
Und dann sah er das Fotoalbum. Es lag ganz unten und er erkannte es sofort. Einen Moment starrte er es an, als sei es ein böses Tier, das er unter einem Stein entdeckt.
Aron beschloss, die Kiste in seine Wohnung zu tragen und sich die Fotos und die anderen Sachen in Ruhe bei anständigem Licht anzuschauen.
Während er Tee kochte, dachte er darüber nach, was er eigentlich über Vater wusste. Seine Eltern hatten sich im Theater in der Warteschlange an der Garderobe kennengelernt. Drei Jahre später hatten sie geheiratet und kurz darauf ein Kind bekommen: Aron. Vater schrieb damals Kindergeschichten für die Zeitung und spekulierte mit Erfolg an der Börse. Sechs Jahre später war er plötzlich gestorben, von einem Tag auf den anderen, ohne Vorwarnung, wie Mutter immer behauptet hatte, an einem Schlaganfall oder so etwas Ähnlichem. Aron erinnerte sich dunkel daran, dass Mutter die Todesursache lange Zeit angezweifelt und oft mit Ärzten gesprochen hatte. Aber Genaues wusste Aron nicht, denn sein Verhältnis zu Mutter war immer sehr schwierig gewesen. Sie hatte sich nach Vaters Tod oft in ihre eigene Welt zurückgezogen und Aron mit unberechenbaren Gefühlsschwankungen gequält, in denen sie an manchen Tagen kalt und abweisend und an anderen Tagen übertrieben fürsorglich gewesen war. Das waren keine Umstände, die intensive Gespräche zwischen Mutter und Sohn begünstigt hätten. Vielmehr war Aron über jede Minute froh gewesen, in der Mutter nicht an Vater gedacht hatte.
Er setzte sich im Wohnzimmer mit einer Tasse Tee auf den Boden und begann, die Kiste auszuräumen. Zunächst griff er nach dem Fotoalbum und schlug es auf. Schwarzweißfotos, offensichtlich vor dem Standesamt aufgenommen. Sein Vater im eng geschnittenen dunklen Anzug und seine Mutter ganz in Weiß, mit Schleier. Sie sieht so glücklich aus, dachte er, und spürte ein eigenartig beklemmendes Gefühl in sich aufsteigen. Auch Vater wirkte sehr zufrieden, jedoch nicht so ausgelassen wie Mutter. Irgendwie ernster. Aron fand, dass Vater sehr gut aussah, mit seinem wachen und intensiven Blick. Vielleicht zu gut für Mutter, die ihm eher durchschnittlich vorkam, trotz ihres hübschen Hochzeitskleides. Aron schämte sich für diesen Gedanken und blätterte weiter. Mutter lachend beim Essen, mit Zigarette, dann wieder mit Weinglas, mit den Gästen anstoßend, und immer wieder mit glücklichen Blicken für ihren Mann. Er: weiterhin zufrieden und still. Keine Zigaretten, kein Wein, höchstens ein Lächeln.
Ein paar Seiten weiter tauchte dann Aron auf. Nackt, dick und schreiend, in einer Emaillewanne badend. Dann eingewickelt in weiße Tücher in Mutters Armen, auf Vaters Schoß, in Vaters Armen. Aron hielt inne. Er betrachtete das Bild genauer. Eines der wenigen Farbfotos. Vater hatte wieder diesen intensiven Blick, der Aron schon auf einigen der Hochzeitsfotos aufgefallen war. Hypnotisch, fast ein wenig unheimlich. Ein Gefühl von Neugierde überkam Aron. Was war sein Vater eigentlich für ein Mensch gewesen?
Aron blätterte weiter. Ein loses Foto rutschte aus dem Album und fiel auf den Boden. Es war größer als die anderen und zeigte drei Personen, offenbar eine Kleinfamilie, die auf der Alten Brücke in Heidelberg posierte. Heidelberg! Die Stadt in der er heute lebte. Das Foto faszinierte Aron sofort. Es war von guter Qualität und schien doch älter als die anderen Bilder zu sein, wahrscheinlich aus den Zwanziger- oder Dreißigerjahren. Die jüngere Frau, offensichtlich die Tochter, war außerordentlich hübsch. Sie kam Aron irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatte er das Bild früher schon einmal gesehen, als das Album noch auf dem Nachttisch seiner Mutter gelegen hatte. Erinnern konnte er sich allerdings nicht daran. Die ältere Frau auf dem Bild sah der jüngeren sehr ähnlich.
Er wollte das Bild gerade wieder ins Album legen, da blieb sein Blick an dem älteren Mann auf dem Foto hängen. Dessen intensiver Blick erinnerte ihn irgendwie an das Foto seines Vaters weiter vorne im Album. Ein Verwandter, dachte er. Aron blätterte zurück zu dem Foto, das ihn als Baby im Arm seines Vaters zeigte. Frappierende Ähnlichkeit. Beide Männer hatten zurückgekämmte Haare und diesen eigenartig intensiven Blick, nur dass der Mann auf der Alten Brücke deutlich älter und schon ergraut war. Aron drehte das Foto um. Jemand hatte mit Bleistift „Nora Losberg und Familie, Heidelberg, 1927“ darauf geschrieben.
Nora Losberg. Den Namen hatte Aron irgendwo schon einmal gehört, aber er konnte ihn nicht einordnen. Er musste Mutter fragen, wer diese Leute waren.
Aron legte das Album zur Seite und griff nach den Geschichten, die Vater für die „Zeitung am Abend“ geschrieben hatte. Es ging um einen Geist namens Space, der aus den Weiten des Universums gekommen war, um die Kinder der Erde kennenzulernen. Ganz nett, dachte Aron, ohne Lust zu verspüren, die Geschichten ausführlicher zu lesen. Also legte er sie beiseite und holte den Ordner „Börse 81-82“ aus der Kiste. War Vater nicht 1981 gestorben? Tatsächlich, der Ordner war nicht einmal halb voll. Vater hatte darin seine Börsenorders und Depotauszüge abgeheftet. Zahlreiche Käufe und Verkäufe, immer Aktien, teils von kleinen unbekannten Unternehmen, teils von großen Firmen. Aron blätterte bis zum Ende und fand dort eine Aufstellung von Transaktionen, welche die Bank am 29. Mai 1981 durchgeführt hatte. War Vater nicht Ende Mai gestorben? Offensichtlich hatte er kurz vor seinem Tod alle Aktien verkauft und gegen Bundesanleihen und -schatzbriefe eingetauscht. Alles sichere Anlagen, mit denen Vater vorher nicht gehandelt hatte.
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