Ja, es gibt doch mehr Assis als man denkt, und Patrick Stirner ist wirklich einer der Schlimmsten, sagte Simon im Stillen zu Krabat. Er ging hoch in sein Zimmer und hörte die Wir-sind-Helden-CD, die ihm Julian mitgebracht hatte. Dann probierte er es gleich mal bei Mike – Anne war jetzt sowieso beim Handballtraining – und erreichte ihn nicht.
Simon legte sich aufs Bett und überlegte schon, wie und wo man was mit wem sprayen könnte. In dem Moment schneite Speedy herein, schmiegte sich an ihn und miaute als wollte sie sagen: »Ich bin dabei.«
Nach ein paar Minuten rief Mike zurück. »Hi, wie siehts aus?!«
»Danke, alles okay. Julian war vorhin hier.«
»Ach ja, genau, und wie war’s? Ist Ullrich ein Schwein?«
»Nicht nur der«, meinte Simon.
»Hey Mann, wie bist du denn drauf?«
»Ach, wir sind beide der Meinung, dass es doch eine ganze Menge Vollassis gibt, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr fallen mir ein. Und soll ich dir noch was sagen? Das nervt mich!«
Mike konnte nicht ganz folgen. »Echt, das nervt dich! Hm, was solls, das ist halt so. Kannste eh nichts gegen machen!«
»Nein, nicht wirklich, aber Julian hatte die Idee, ein Graffiti zu sprayen.« Da stutzte Mike. »Julian? Moment. Das ist ja wohl mein Job!«
»Genau, aber die wichtigste Frage ist: Was schreiben wir?«
»Ach, da findet sich schon was.«
Jetzt hatte Mike angebissen, er betätigte sich schon seit der neunten als Sprayer, aber bisher immer nur just for fun, ohne jeden Anspruch. Es waren meistens bloß ein paar kleine Tags gewesen, mehr nicht, und zwar fast immer zusammen mit Sven.
Die beiden waren beim Sprayen aber auch schon erwischt worden und mussten alles wieder wegschrubben. Eine Heidenarbeit war das. Hatte außer Simon auch niemand erfahren. Nicht mal seine damalige Freundin. Nach der Pleite hatten sie keine Aktion mehr unternommen.
Mike merkte, dass er da jetzt richtig Bock draufhatte. »Wer nimmer strebend sich bemüht...«, schlug er gleich vor.
»Nicht schlecht, aber es sind ja nicht unbedingt die Streber. Für mich gehts mehr um Ellenbogenmentalität und Egoismus!« erklärte Simon.
»Sind das nicht die Streber?«
»Hm, nicht unbedingt, die sind doch in der Regel total harmlos. Duckmäuser und Automaten. Da gibts ganz andere. Ich denke da zum Beispiel an Stirner, den kennst du doch auch.«
»Klar, kenn ich den.«
Mikes Handy klingelte. »Wart mal ’ne Sekunde. Hallo, hier ist Mike... Hi Esther! Alles im grünen Bereich?... Ja, Superidee.... Okay... Ich kann dich abholen, wenn du willst... Ja. Ich telefoniere gerade mit Simon auf dem Festnetz... Ciao... Ja, ciao.«
»Grüße von Esther. Wir wollen uns morgen treffen.«
»Hats schon gefunkt?« wollte Simon wissen.
»Bin mir noch nicht sicher, wird sich aber bald herausstellen. Ähm, wo waren wir stehen geblieben?« fragte Mike.
»Bei Stirner. Und bei den Paukern gibts ja auch nicht nur den schrägen Ullrich. Denk mal an die Henlein. Anne kann von der ein Lied singen. Vor zwei, drei Jahren wollte die Daniel Zochol eins reinwürgen und hat ihm nur 4 Punkte gegeben, weil er dauernd stört, zu spät kommt. Die übliche Nummer halt. Hab ich dir das schon mal erzählt?«
»Kann mich nicht erinnern«, antwortete Mike.
»Also Anne fand das voll daneben und meinte, er hätte mündlich genauso viel mitgearbeitet wie sie. Sie wollte wissen, wieso er nur 5 Punkte dafür kriegt und sie 9. Darauf sagt ihr die Henlein: Ja, sie haben Recht, sie kriegen auch 5 Punkte! Das ist doch ’n Witz oder? – Obwohl die das dann letztlich doch nicht gemacht hat.«
»Das machts auf keinen Fall besser, eher noch schlimmer.«
Sie waren sich am Ende einig, dass Anne auch dabei sein sollte und wollten sich mit ihr und Julian in konspirativer Runde treffen.
Drei Tage später saßen sie schon im schummrigen Licht einer altmodischen Stehlampe auf Julis Sofagarnitur zusammen und tauschten ihre Ideen aus.
Mike wollte zunächst ästhetische Fragen klären, also ob es ein Style-Writing oder Stencil sein sollte e t c, aber Anne winkte ab und meinte, das Formale wäre sekundär. Sie bräuchten erstmal einen guten Inhalt. Ihr schwebten Rainbows for Elbows in Regenbogenfarben auf grünem Untergrund vor.
Da stellte sich Mike quer, fand, das sähe aus wie im Schaufenster für Lackierbedarf, und Julian sah es genauso, obwohl ihm der softe Flowerpowertouch doch eigentlich gefallen sollte. Sicher machte er sich gar keine Vorstellung davon.
»Kommt darauf an, wie man es umsetzt«, hielt sie brüskiert dagegen und Mike erwiderte: »Genau das sage ich ja die ganze Zeit.« Die beiden schauten sich wortlos an.
In dem Augenblick sprang Julian auf und sang: »Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna, Krishna Hare Hare...« Er drehte sich dabei mit ausgestreckten Armen und zur Seite gelegtem Kopf wie ein türkischer Derwisch schwungvoll auf der Stelle. War also offensichtlich wieder bis in die letzten Windungen seiner Dreadlocks zugedopt.
»Hey, kannst du bitte mit dem Quatsch aufhören?« Anne wurde richtig sauer und war schon kurz davor auszusteigen.
»Wie wärs mit Streber, wir kriegen Euch!« Das war jetzt Julians Vorschlag und Simon fragte sich, wie er darauf kam. Das ist ja fast die gleiche Idee wie die, die Mike neulich hatte. Der blickt anscheinend selber nicht genau, worum es wirklich geht.
»Mensch Juli, die Streber sind doch völlig harmlos!« sagte er leicht genervt.
»Und außerdem bitte keine unqualifizierten Anspielungen auf den Feminismus!« stöhnte Anne kopfschüttelnd.
»Wie wäre es mit Neid ist geil!?« überlegte Mike.
»Hey cool«, meinte Julian sofort. Er schien nun etwas mehr bei der Sache zu sein. »Wie ging das noch: meine Yacht, mein Auto...«
Anne unterbrach ihn. »Oh nein, stopp, voll daneben. Bloß keine Kommerzsprüche. Wir wollen doch hoffentlich nichts verkaufen!«
Simon ignorierte das und wurde langsam ungeduldig. »Ich finde, das trifft es alles nicht so richtig. Ich dachte, es geht uns um was ganz Anderes?!«
Danach allseits bedächtiges Schweigen statt geistigem Ringen. Julian hielt das nicht lange aus und ging in die Küche. Holte Süßigkeiten. Mike leerte derweil seine Bierflasche, räkelte sich auf der Couch und legte die Füße auf den Tisch. Anne dachte angestrengt nach und Simon spielte mit den Fransen am Stehlampenschirm – bis Krabat ihm soufflierte: »Freunde macht die Egoisten fertig!«
Der Stein der Weisen war das auch nicht, aber Julian hatte dann noch die Idee eine Chiffre drunter zu setzen, um die Leute neugierig zu machen. LGK zum Beispiel – Liga gegen Konkurrenzverhalten – und sie arrangierten sich damit.
Am Ende meinte Mike, damit das Graffiti richtig rüberkommt, müssten sie es über die gesamte linke Außenwand neben dem Eingang der Pausenhalle sprühen. »Und Leute«, sagte er, »das ist erst der Anfang!«
Dann ließen sie die Gläser klingen. »Together we stand, divided we fall!« rief Julian enthusiastisch.
Kein Sinn für das Alltägliche
Sickmann würde zu spät zur Fortbildung kommen, soviel war klar, als er sah, wie die beiden Kollegen das Hotel verließen während er sich eben erst zum Frühstück bequemte. Er war bis Mitternacht allein in der Stadt unterwegs gewesen und hatte den Wecker überhört. Was ihn allerdings nicht beunruhigte. Er brauchte momentan einfach sehr viel Zeit für sich.
Sickmann schaute gedankenverloren aus dem Fenster, bis die Kellnerin an den Tisch kam und etwas vorlaut fragte, wie er sein Ei haben möchte.
»Für mich bitte hartgekocht!«
Sie stellte ihm einen O-Saft auf den Tisch, wobei ihr ein wenig über den Glasrand schwappte, und eilte weiter zum Nebentisch, um ihn abzuräumen. Nahm, als sie sich ein paar Schritte von den Gästen entfernt hatte, ein übrig gebliebenes Croissant aus dem Brotkorb und biss ungeniert hinein. Seltsam, aber irgendwie anrührend, dachte Sickmann und wurde langsam richtig wach.
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