»Guten Morgen Julian, sie scheinen sich ja prächtig zu amüsieren«, säuselte er süffisant mit seinem berüchtigten schiefen Grinsen, sodass der ganze Kurs aufmerksam wurde und auf irgendeine Gemeinheit wartete.
»Ja, schon«, erwiderte Juli und schluckte, als er Ullrichs fette, abgewetzte Ledertasche sah, prall gefüllt hundertpro mit den Klausuren, die sie letzte Woche geschrieben hatten. Ihm schwante Böses, denn er war ein Fünferkandidat.
Ullrich sagte mit provokant leiser Stimme: »Ich habe ihre Klausuren durchgesehen und muss sagen, es war ernüchternd. Zwei von ihnen haben eine gute oder sogar sehr gute Arbeit geschrieben, aber ein großer Teil scheint selbst die Grundprinzipien der Kurvendiskussion nicht verstanden zu haben.«
»Könnte es vielleicht damit zu tun haben, dass sie es uns nicht erklären können?« fragte eine Schülerin.
»Nein, wohl kaum. Ich kann es mir ja selber auch nicht anders begreiflich machen«, antwortete er kryptisch ausweichend, als hätte er mit der Bemerkung gerechnet.
Ullrich gab die Klausuren dann wie üblich nach Noten sortiert zurück, und Patrick dachte, was für ein albernes kleines Machtspielchen der hier immer abzieht. Aber es funktionierte, die Leute saßen da wie die Pappkameraden. Er hatte keinen Bock mehr drauf und begleitete die Lachnummer diesmal mit höhnischen Kommentaren.
Bei Simons und Sarahs Bestnoten ließ er nur ein paar ironische Sprüche ab: »Es kann nur einen geben...« und »Die ewige Zweite.« Dann wurde er bissiger: »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen – schade eigentlich«, und jaulte dazu wie beim Flugzeugcrash, was selbst Ullrich nervte: »Hören sie endlich auf damit!«
Er zog Patricks Klausur aus dem Stapel und gab sie ihm, um das zu unterbinden. Aber der schaute nicht mal rein, als wollte er allen zeigen, dass Ullrich egal war.
Schließlich wurde es für die Schwachmaten ernst, es waren nur noch wenige Hefte übrig. »Mölbert, Mölbert, alles Üben ist vergebens. Du solltest dir einen Ausbildungsplatz suchen.«
Der bot ihm allerdings Paroli: »Danke für den Ratschlag, aber ich möchte den Sturz des Patrikarus nicht verpassen. Früher oder später fällst du.«
Patrick stutzte. »Hoho, wie kommst du denn darauf, willst du mir Angst machen? Da kann ich ja bloß lachen.«
Als Ullrich nur noch ein Heft in der Hand hielt, ging er zu Julian an den Tisch und fragte: »Na, was meinen sie, wie viele Punkte sind es diesmal?«
»Ich hoffe mindestens vier«, meinte der und dachte wieder an den Dude.
»Nicht ganz, minus 4«, murmelte Ullrich. Er schüttelte abschätzig den Kopf und ließ Julians Heft wie Müll auf den Tisch fallen, in das der dann kurz einen Blick warf, um danach fast vom Stuhl zu rutschen und im Boden zu versinken.
»Born to lose, Mann... das ist ja zum Fremdschämen!« Patrick klatschte, johlte und sah höhnisch zu Juli rüber, der keine Regung mehr zeigte. »Hey hey Hippie, ein Video für Facebook gefällig? Ich weiß nämlich, was du vorgestern Abend getan hast!«
Da erst drehte sich Juli nach ihm um und Patrick gestikulierte in anzüglicher Weise, vor den Augen aller, wild stöhnend mit der offenen Faust.
Als Simon nach dem langen Schultag endlich allein zu Hause war, seine Mutter hatte Spätdienst, machte er sich immer noch leicht genervt von dieser Mathestunde sein Abendessen: Tomaten, Käsebrote, O-Saft, und ging damit hoch in sein Zimmer. Er wollte erst einen Camustext für Ethik durcharbeiten und sich am Abend mit Anne und Mike in der Oase treffen.
Während des Essens und Lesens, das ging bei ihm auch parallel – der Mensch und die Tomate –, zwischen den letzten Happen und Zeilen, meldete sich Mike.
»Hi, was machst du?« fragte er.
»Ich lese gerade ein Kapitel aus der Mensch in der Revolte.«
»Ah Camus, okay, und interessant!?«
»Ja schon, aber auch schwierig. – Und was treibst du so?«
»Nichts Besonderes. Ein bisschen Gitarre spielen und Mathe erledigen. Wie siehts aus, wollen wir uns vielleicht schon früher treffen?«
Mike stand dann um sieben auf der Matte und sie fuhren zusammen in die Oase. Schon am Eingang begegneten sie Dennis Graef, den Simon aus der Mittelstufe kannte. Die beiden unterhielten sich eine Weile und Mike setzte sich derweil in den Dartraum ab.
»Sag mal, weißt du, was mit dem Laarmann los ist?!« fragte er, als Simon wenig später dazu kam.
»Wieso, was ist mit dem?«
»Ach, vorhin hab ich ihn gefragt, ob ich mitspielen kann, da mault der »Nein!« und auf die Frage: Wie lange er noch spielen will, sagt er wieder nein, starrt auf die Scheibe wie ein Troll, knallt die Darts an die Wand – die lagen hinterher auf dem Boden wie tote Insekten – und haut danach einfach ab.«
»Hm, ich schätze, das liegt daran, dass er heute bei Ullrich null Punkte kassiert hat. Wenn das so weitergeht, kann er das Abi glatt vergessen«, meinte Simon.
»Ist aber auch selbst schuld. Der tut ja wohl gar nix für die Schule. Ist stattdessen jeden Abend als Erster hier und geht als Letzter weg.«
Die beiden spielten eine Runde Darts und suchten sich anschließend einen freien Tisch. Unterwegs wollte Mike eigentlich nur rasch Getränke holen, begegnete an der Theke dann aber der unwiderstehlichen Esther und unterhielt sich länger mit ihr. Sie scherzten und lachten als wären sie frisch verliebt.
Mein Freund der Loverboy, dachte Simon. Er ist, was Frauen mögen. Blond, groß und sportlich. Bandleader mit Curt-Cobain-Appeal und obendrein auch noch clever. In den Leistungsfächern Geschichte und Englisch einer der Besten. Eine frühere Freundin hatte ihm gesagt, er sollte als Model arbeiten. Aber Mike hatte daran, bislang zumindest, gar kein Interesse.
Er kam jetzt mit Esther rüber zu Simon an den Tisch. Kurz darauf saß plötzlich auch Julian neben ihm.
»Du hast ja, glaube ich, mitgekriegt, dass Ullrich mir heute eine sechs reingewürgt hat«, erklärte Julian und Simon nickte.
»Kurvendiskussion kapiere ich einfach nicht, und da wollte ich dich fragen, ob du mir das eventuell erklären könntest. Wir schreiben doch in zwei Wochen noch mal ’ne Klausur über das Thema und ich blick da echt überhaupt nicht durch.«
»Ja klar..., wenn du willst, kannst du am Mittwochnachmittag vorbeikommen, da habe ich Zeit«, bot Simon an und Juli konnte schon wieder lachen. »Oh Mann wirklich? Danke, das ist supernett. Ich schwöre, ich bin total pünktlich.«
»Sagen wir um 15 Uhr – so für zwei, drei Stunden?!«
Er nickte. »Ja perfekt. Ähm, tut mir übrigens leid wegen vorhin, Mike!«
»Ist schon okay«, erwiderte der und Juli zog erleichtert ab.
Er ging später tatsächlich wieder als einer der Letzten nach Hause. Hatte beim Rausgehen schon den Leere-Kneipe-Geruch von abgestandenem Bier und kaltem Rauch in der Nase. Die Musik war bereits abgeschaltet.
Draußen war es eisig und die Jacke zu dünn. Er bibberte und schaute auf die Uhr. Verdammt, halb zwei. Auch egal, die kriegen eh nichts mit, haben bestimmt wieder volle Pulle geladen und sich den ganzen Abend gestritten. Was solls, ist ja sowieso alles schnurz. – Aber, dass das Dope rapide zur Neige geht, nicht! Und Marie wollte auch wieder was...
Au Mann, dieses Ullrichschwein und dann auch noch der Stirner. Hat der mich hier etwa durchs Fenster irgendwie beim Wichsen beobachtet? Könnte schon sein. Shit! Man sollte dem... Stopp, wo ist der Schlüssel?! Puh, bin ich dicht. Also, wo kriege ich das Dope her? Richie am besten. And don’t forget Marie!
Am Mittwochmorgen standen die älteren Schüler kurz vor Unterrichtsbeginn zumeist in der geheizten Pausenhalle zusammen, tauschten Neuigkeiten aus oder waren vereinzelt mit ihren Handys und Smartphones beschäftigt, während sich viele Fünft- und Sechstklässler draußen noch mal richtig austobten. Beim ersten Läuten stritten sich zwei Mädchen heftig und wurden sogar handgreiflich.
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