Wie von einer großen Woge wurde Maya von ihrer Vergangenheit überschwemmt. Ihr Vater, ihr Bruder, ihre Schwester. Wahnsinn, Tod, Verlust. Die ständige Wachsamkeit, die an ihren Nerven zerrte, das Misstrauen und der Mangel an echten Beziehungen. Rocco kannte ihre Geschichte nicht und auch nicht ihren echten Namen, aber er musste es doch wissen. Er musste doch wissen, wie es ihr ging. In diesem Viertel der Stadt fand man vielleicht eine Handvoll Menschen, die nicht ein ähnliches Schicksal teilten. Sie hatten alle verloren. Auch Rocco. Er musste es doch wissen!
„Und du?“, sagte sie. Sie musste sich räuspern. „Du hast ein Bild.“
„Ja und es ist nur ein Bild. Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als malen.“
„Bist du lebensmüde?“
„Das hat doch damit nichts zu tun!“
„Nein?“ Maya fand langsam ihre Stimme wieder. „Glaubst du denn, du könntest irgendetwas in Oziljak zum Guten verändern, indem du leichtsinnig und unüberlegt provozierst? Das ist kein Widerstand, das ist dumm!“
„Lieber dumm sein, als immer nur ängstlich den Kopf einziehen.“
Maya schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Rocco war ein Junge. Ein ziemlich wütender, uneinsichtiger Junge. Im Moment erreichte sie gar nichts. Seine trotzige Mauer war nicht zu durchbrechen. Aber dieses Bild blieb eine Gefahr.
„Meinetwegen, mach was du willst. Wenn du bereit bist, die Konsequenzen zu tragen.“
„Ich…“, setzte Rocco an.
„Aber es sind deine Konsequenzen. Zieh mich da nicht mit rein. Ich möchte, dass dieses Bild aus meinem Atelier verschwindet. Hast du mich verstanden?“
„Nur weil du Angst…“
„Hast du mich verstanden?“
Schweigen.
„Rocco!“
„Ja.“
Der Moment, in dem ein guter Song einen trifft und einen ausfüllt, bis die Haut prickelt, gehörte zu besten, die Scar sich vorstellen konnte. Sein Rückenmark sandte heiße Schauer durch seine Glieder und sein Trommelfell knackte vom monströsen Sound der Gitarre. Reglos stand Scar im VIP-Bereich des Clubs. Seine Augen waren auf die Tanzfläche unter ihm gerichtet, aber er sah nicht hin. Er war ganz auf diese Musik konzentriert, die ihren galoppierenden Bass und die dumpfen Drums direkt durch seinen Magen schickte. Dieser Song war nur für ihn. Scar hatte schon immer die Fähigkeit gehabt, sich in Musik zu verlieren. Lange hatte er geglaubt, das ginge jedem so. Doch mit der Zeit war im klar geworden, dass es Menschen gab, die Musik allgemein keine große Bedeutung zumaßen. Ganz und gar unmusikalische Menschen hielt Scar für groteske, erschreckende Launen der Natur. Musik war so selbstverständlich für ihn, zog sich durch seinen Tag und machte ihn glücklich in Momenten wie diesen.
Dabei verschwendete er keinen Gedanken auf die Frage, warum ihm gerade diese oder jene Art von Musik gut gefiel. Ein guter Song war ein guter Song. Die Entscheidung war unbewusst und meist unwiderruflich.
Scar fühlte den Rhythmus an seinen Fingerspitzen, als könnte er ihn greifen. Hätte er seine harte Schale nur einen winzigen Moment ablegen können, er hätte sofort angefangen wild Luftgitarre zu spielen. Dabei hätte er seine nicht vorhandenen Haare durch die Luft geschleudert und laut über sich selbst gelacht. Doch die Schale blieb verschlossen. Und es ging verdammt nochmal keinen was an, wie es darunter aussah.
Am Rande seines Blickfelds glitzerte etwas. Ein Mädchen hatte sich neben ihn gestellt und erwartete, dass er sie bemerkte. Sie warf ihre blonden Haare zurück und die Spitzen streiften weich seinen Oberarm kurz unterhalb der Stelle, an dem sein T-Shirt endete. Scar seufzte. Der Song war vorbei.
„Was willst du?“, fragte er die Schönheit an seiner Seite barsch. Als Scar sie erkannte, hätte er sich die Frage auch selbst beantworten können. Diese Frau war eine Prostituierte. Sie hieß Tanja und gehörte genau wie die viel zu jungen, viel zu dünnen, viel zu betrunkenen Sternchen in den VIP-Bereich dieses Clubs. Sie war wirklich gutaussehend. Sie hatte volle, sinnliche Lippen, eine unglaubliche Figur und große, ziemlich überschminkte Augen. Normalerweise gab sie sich jedoch nicht mit Typen wie ihm ab. Er war einsilbig, abweisend und hässlich. Warum mit ihm sein Glück versuchen, wenn sein Bruder und dessen Freunde doch viel attraktiver waren und so bereitwillig zahlten?
„Oh, Verzeihung!“, entgegnete Tanja in gespielt erschrockenem Ton. „Ich wusste ja nicht, dass es verboten ist, sich neben dich zu stellen.“
„Ach, komm schon.“ Warum redete er überhaupt mit ihr? Ihr kurzes Kleid glitzerte golden und das passte wirklich wunderbar zu ihren langen glatten Haaren.
Moment, glitzern? Er hatte sie doch nicht mehr alle.
„Vielleicht will ich mich nur ein bisschen unterhalten.“
Natürlich wollte sie das. Eine Unterhaltung mit ihm gehörte mit Sicherheit zu den besten Beschäftigungen hier im Club. Scar verzog spöttisch den Mund.
„Hat dich mein Bruder geschickt?“ Er war sich sicher, dass sie nicht freiwillig hier war. Doch sie spielte ihren Part bravourös, das musste er zugeben. Ihre Augenbrauen fuhren überrascht in die Höhe und ihre Lippen formten einen beleidigten Schmollmund. Er wollte so gerne in diese Lippen beißen.
„Nein, niemand hat mich geschickt“, protestierte Tanja pflichtschuldig. „Hör mal, ich muss nicht hier rumstehen und…“
„Wie viel nimmst du?“, unterbrach er sie. Tanja hielt inne. Dann atmete sie erleichtert aus. Noch ein kleiner stilistischer Schlenker:
„Was meinst du?“
„Ich will wissen, wie viel es kostet.“
Tanja lächelte ein süßes Lächeln, kam ihm ganz nah und ihre Haare kitzelten auf seiner Haut, als sie ihm ihre Bedingungen ins Ohr raunte. Dann war ihr Atem an seinem Hals verschwunden. Sie war ein kleines Stück von ihm abgerückt und blickte ihn erwartungsvoll an. Diese verdammten Lippen. Er nickte.
Tanja griff nach seiner Hand und war ihm plötzlich wieder ganz nah.
„Dann komm.“
Scar folgte ihr in eines der kleinen Separees im hinteren Teil des VIP-Bereichs. Die schweren Vorhänge, die Scar hinter sich zuzog, ließen die Musik nur noch gedämpft herein. Es klang wie ein schneller Puls. Der Raum war ausgestattet mit einigen niedrigen Sesseln und einem ebenso niedrigen, runden Tisch. Doch Scar hielt sich nicht lange mit der Möblierung auf. Seine Augen ruhten auf Tanjas Rücken, über den die dünnen Träger ihres Kleides verliefen. Und als sie sich zu ihm umdrehte, ließ er seinen Blick über ihre Brüste, ihre Hüften und wieder zurück zu diesen Lippen schweifen. Tanja schenkte ihm ein verführerisches Lächeln. Ihre Augen leuchteten. Einem heftigen Impuls folgend, packte er sie, drückte sie an sich und drängte sie rückwärts gegen die Wand. Seine Hände vergruben sich in ihren Haaren, als er sich hinab beugte, um sie endlich zu küssen.
Sie zuckte zurück.
Nur einen winzigen Augenblick und nur wenige Millimeter. Aber Scar nahm es so deutlich wahr, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Natürlich. Wie hatte er vergessen können, wie er aussah? Sein innerer Panzer verschloss sich fest. Noch immer war er ihrem Gesicht so nah, dass er ihren schnellen Atem spüren konnte. Tanja blinzelte verwirrt.
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