Maya hatte einige Zeit gebraucht, das nasse, eng umschlungene Menschenknäuel aus dem Innenhof in ihre Wohnung zu bugsieren. Lisa hatte sich geweigert, Rocco auch nur für eine Sekunde loszulassen. Und auch jetzt, als sie ihm gegenüber an Mayas Tisch saß, hielt sie seine Hand. Sie wärmten sich an dem Feuer, das Maya in ihrem kleinen Bollerofen in der Ecke gemacht hatte.
„Ich musste nur da weg, ein bisschen laufen.“ Rocco schob seine Tasse verlegen über den Tisch und sah Lisa entschuldigend in die Augen.
„Das ist schon in Ordnung. Hauptsache, du bist jetzt da“, antwortete Maya und goss sich selbst Kaffee nach. Müde und durgefroren wie sie war, erschien ihr das dunkle Gebräu momentan wie der beste aller Zaubertränke. Sie lehnte sich gegen die kleine Anrichte ihrer Küche und betrachtete das Pärchen dort am Tisch. Lisa hatte die ganze Zeit noch kein Wort gesprochen. Sie war so froh, Rocco wiederzuhaben, dass sie wohl ganz in diesem Moment versunken war. Sie war einfach nur erleichtert und ihre Augen leuchteten. Hinter Roccos Stirn dagegen konnte man es beinahe arbeiten sehen. Zuviel war auf ihn eingestürmt in den vergangenen Stunden. Die Eltern verschwunden, das Zuhause zerstört.
„Wo soll ich denn jetzt hin?“, fragte er, als hätte er Mayas Gedanken geteilt.
„Wir suchen uns gemeinsam eine Wohnung“, schlug Lisa vor. Doch Rocco schüttelte bereits den Kopf.
„Süße, du weißt genau, dass das nicht geht. Du musst in deiner WG bleiben, bis du 18 bist. Sonst kassieren sie dich ein.“
Da hatte Rocco wieder einmal Recht. Als minderjährige Vollwaise durfte Lisa sich nur so frei bewegen, weil sie sich an die Regeln hielt. Gewissenhaft täglich zur Schule, keine Jungs auf dem Zimmer, keine Drogen, kein Aufsehen. Ein Verstoß bedeutete: Jugendheim für die nächsten zwei Jahre. Zwei Jahre ohne Rocco. Das würde Lisa niemals aushalten. Sie hatte schon einmal eine Zeit im Jugendheim verbracht und wollte das mit Sicherheit nicht wiederholen.
Als Lisas Eltern bei einer Explosion in der Chemiefabrik ums Leben kamen, war Lisa gerade 13 Jahre alt gewesen. Lisa war zum Unfallort gelaufen und hatte mitangesehen, wie 34 Leichen aus der völlig zerstörten Werkshalle gebracht wurden. Als sie darunter ihre Eltern erkannte, hatte sie angefangen zu schreien. Sie hatte getobt und gebrüllt, bis sie die Sanitäter mit Beruhigungsmittel vollgepumpt hatten. Danach war sie in ein Heim gebracht worden – irgendwo außerhalb der Stadt. Doch ohne Rocco hatte sie es dort nicht ausgehalten. Er war der Einzige, so muss sie gedacht haben, zu dem sie noch konnte. Der Einzige, der noch übrig geblieben war. Also war sie ausgerissen. Doch in der unbekannten Gegend hatte sie sich schnell verlaufen. Als Maya auf der Straße über sie gestolpert war, hatten sie Lisas große, verweinte Augen so verzweifelt angeblickt, dass Maya den Impuls zu helfen einfach nachgegeben hatte. Sie hatte den Vorsatz, nie wieder nach Oziljak zu gehen, ohne weiter nachzudenken gebrochen und war mit Lisa auf die Suche nach Rocco gegangen. Es war nicht ganz leicht gewesen, denn Roccos Eltern waren aus ihrer alten Wohnung vertrieben worden. Die Mieten waren rasant gestiegen und sie hatten sich die vier Zimmer einfach nicht mehr leisten können.
Um sie zu finden hatten Maya und Lisa herumfragen müssen. Möglichst unauffällig, denn keine der beiden hatte riskieren können, ins Visier der Behörden zu gelangen. Es hatte Tage gedauert, bis sie Roccos Vater schließlich nach der Arbeit in der Fabrik abpassen konnten. Tage, in denen sie auf der Straße geschlafen hatten, versteckt vor der Polizei. Sie hatten sich aneinander gekuschelt um nicht zu frieren, und hatten sich Geschichten zugeflüstert, gegen die Angst.
Doch als sie Roccos Vater Carlos gefunden hatten, hatte er Lisa sofort fest in den Arm genommen und sie in sein neues Zuhause gebracht. Eine winzige Wohnung mit nur einem Zimmer.
Maya hatte sich nicht von Lisa trennen können. Sie hatte sie in Sicherheit wissen wollen und war Carlos und Lisa einfach hinterhergelaufen.
Roccos Vater hatte nur gelächelt und Maya auf einen Tee eingeladen. Während Rocco und Lisa ihr Wiedersehen feierten, hatte Carlos Maya versichert, sich von nun an um Lisa zu kümmern. Selbstverständlich würde sie in der viel zu kleinen Wohnung nicht bleiben können, doch Carlos hatte Maya versprochen, er würde sichergehen, dass sie nicht noch einmal ins Heim musste. So war Lisa in die WG gekommen. Und Maya zurück nach Oziljak. Denn sie hatte zu Lisa eine Verbindung geknüpft, die sie nicht hatte lösen wollen. Viel zu lange, so war ihr deutlich geworden, hatte sie vermieden, zu anderen Beziehungen aufzubauen. Viel zu unsicher. Traue niemandem. Aber Lisa hatte ihr vertraut und Maya war es ihr schuldig, dieses Vertrauen zu erwidern. Das hatte ihr gut getan. So gut, dass sie beschlossen hatte, wieder in die Stadt zu ziehen. Maya hatte ihr restliches Geld zusammengekratzt und mit Hilfe ihres gefälschten Passes und einigen Schmiergeldern an der richtigen Stelle, in einem heruntergekommenen Viertel das Café und das angrenzende Atelier gemietet. Lieber in Gefahr leben, als ohne jegliche Bindung in vermeintlicher Sicherheit umher zu ziehen.
„Du kannst natürlich erst einmal hierbleiben“, wandte Maya sich nun an Rocco. „Das ist doch klar.“
Rocco sah Maya dankbar an. Dann stürzte Lisa so schnell auf Maya zu und umarmte sie so heftig, dass Maya beinahe die Luft wegblieb. Verlegen schob sie Lisa von sich.
„Ich weiß gar nicht, warum euch das so überrascht.“
Doch weder Rocco noch Lisa gaben ihr Antwort.
Maya räusperte sich: „Naja, dann würde ich sagen, du holst erst einmal ein paar deiner Sachen aus der Wohnung. Bitte sei aber vorsichtig, ja?“
Rocco nickte.
„Lisa, es ist bald Zeit für die Schule, also ab nach Hause mit dir. Ich versuche in der Zwischenzeit herauszufinden, was mit Roccos Eltern passiert ist.“
Lisa drückte sie noch einmal, ging dann wieder zu Rocco und nahm ihn bei der Hand. An der Tür drehte sich der hochgewachsene junge Mann noch einmal zu Maya um.
„Bis später“, sagte er. Dann waren die beiden auch schon zu Tür hinaus.
Scar hasste seine Aufgabe aus tiefstem Herzen. Er betrachtete seinen Bruder Victor eingehend, wie er sich in diesem überdimensionierten Ankleidezimmer die schwarze Lederjacke über die knochigen, breiten Schultern zog. Aber Scar wusste, dass es zwecklos war mit Victor darüber zu reden. Das ganze Wesen seines Bruders unterschied sich grundlegend von seinem. Seine Auffassung von Macht, Führung und Stärke teilte Scar in keinster Weise. Und doch war er Teil dieses Systems. Er machte mit und redete sich selbst ein, nur dann etwas zum Guten bewirken zu können, wenn er sich innerhalb dieses Machtgefüges befand. Aber was unternahm er schon groß? Sicher, er hatte manchmal die Möglichkeit, Victors sadistische Extreme zu verhindern. Aber darüber hinaus hatte er noch nicht viel erreicht. So verquer es auch klingen mochte, aber dazu fehlte das Vertrauen. Victor vertraute seinem Bruder nicht. Und das einzige, worauf Scar bei seinem Bruder vertrauen konnte, war, dass Victor all die schrecklichen Klischees eines brutalen, machthungrigen Patrons erfüllte. In vielen Belangen blieb Scar außen vor oder erfuhr nicht die ganze Wahrheit, das war ihm klar. Schließlich war er der Verräter. Das Leck. Der Abtrünnige, den man nur noch nicht umgebracht hatte, weil er zur Familie gehörte und den man nur innerhalb des engen Kreises um Victor duldete, weil sein Bruder glaubte, ihn so am besten kontrollieren zu können. So oft schon hatte Scar daran gedacht, diese Familie, diese Stadt und dieses Land hinter sich zu lassen. Aber was dann? Victor würde ihn nicht gehen lassen, würde sich nicht der Gefahr aussetzen, den Verräter aus den Augen zu verlieren. Darüber hinaus war sich ein nicht ganz unbedeutender Teil Scars durchaus bewusst, dass er nicht auf die finanziellen Annehmlichkeiten verzichten wollte, die er als Bruder des Patrons genoss. Dafür hasste er sich manchmal ausgiebig.
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