„Aber morgen, morgen räumst du auf, du fauler Hund!“, murmelte Maya. Sie würde ihn heute auf jeden Fall noch kräftig ins Gebet nehmen. Dafür war sicher Zeit. Denn wenn das hier so weiterging, musste er wieder ausziehen – punktum.
„Hier findet man ja über…“ Maya verschlug es die Sprache, als sie einen großen Bogen Papier beiseiteschob. Darunter kam eines von Rocco Bildern zum Vorschein. Eine Collage aus Papier und Acryl. Düster und bedrohlich. Maya hatte nicht mitbekommen, wann er daran gearbeitet hatte. Sie betrachtete die 50 x 70 cm große Leinwand eingehend. Grünliches Schwarz war die dominierende Farbe. Rocco hatte zerknittertes Papier aufgeklebt und dunkel bemalt. Unterbrochen nur durch wenige, rote Farbflecken. Aus diesem Hintergrund grinsten Maya fünf blasse Gestalten entgegen. Zwei davon erkannte Maya sofort. Ganz ins Zentrum hatte Rocco Victor Mocovic gesetzt. Ein aalglattes Äußeres, die Zähne spitz wie bei einem Piranha, an den Händen Blut. Hinter seiner rechten Schulter lächelte Scar ein boshaftes Lächeln. Zumindest nahm Maya an, dass er es war. Sein Gesicht hatte sich ihr nicht so eingebrannt wie das seines jüngeren Bruders Victor. Scar mied das Rampenlicht und tauchte so gut wie nie auf Fotos auf. Aber jedes Kind dieser Stadt wusste, dass Scars Gesicht von einer langen Narbe durchzogen war. Wie es dazu gekommen war, war nicht genau bekannt. Also schossen die Gerüchte darüber ins Kraut. Tatsache war wohl, dass Scar während der Bandenkriege entführt worden war. Von einem verbündeten Clan der Stratovs, vermutete Maya. Manche behaupteten nun, Scar wäre gefoltert worden und hätte erst Familiengeheimnisse preisgegeben, als man ihm das Gesicht zerschnitten hatte. Andere glaubten, Scar hätte freiwillig ausgepackt. Sein Vater hätte ihm deshalb nach seiner Rückkehr aus Wut ein Messer über das Gesicht gezogen. Einige spekulierten auch, es wäre Victor gewesen, der seinen Bruder entstellt hatte. Wie dem auch sei: Scar - der Verräter - war daraufhin in jedem Fall degradiert worden. Vom Thronfolger zum Handlanger im Hintergrund.
Rocco hatte Scar ein düsteres Äußeres verliehen. Maya fragte sich, ob der Scar auf dem Bild tatsächlich Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit hatte. Hatte Rocco irgendwo doch ein Foto gesehen? Oder entsprang das Ganze hier seiner Phantasie? Vielleicht war er dem Narbengesicht sogar schon einmal begegnet. Maya schauderte bei dem Gedanken, Rocco könnte diesem Monster gegenüber gestanden haben. Sie kannte die Eigenschaften, die man Scar zuschrieb: schweigsam, brutal, blutrünstig, skrupellos. Selbstverständlich ein Verräter. Aber war sein Kopf tatsächlich kahlrasiert? Und lagen seine Augen wirklich so tief in den Höhlen? Maya wusste es nicht.
Der Victor Mocovic auf Roccos Bild entsprach jedoch definitiv der Wirklichkeit. Maya wusste nicht genau, wie es dem Jungen gelungen war, den Sadismus in Victors Gesichtszüge zu malen. Waren es die stahlblauen Augen? Es waren doch immer die Augen. Oder lag es an der Art, wie sein Grinsen dargestellt war? Es war erstaunlich, wie gut Rocco diesen Wesenszug eingefangen hatte.
Von den Händen aller Gestalten auf diesem Bild tropfte Blut in das Schwarz des Hintergrunds. Die drei Personen hinter Victor und Scar waren Maya unbekannt. Ihre Gesichter lagen ein wenig mehr im Schatten. Der Focus gehörte den beiden Brüdern. Es war ein eindeutiges Bild mit einer unmissverständlichen Aussage. Rocco würde es vernichten oder vergraben müssen, wenn er sich nicht in Gefahr bringen wollte.
„Was sagst du dazu?“ Beinahe hätte Mayas Herz vor Schreck den Geist aufgegeben. Sie hatte nicht bemerkt, dass Rocco ins Atelier gekommen war.
„Heilige Scheiße“, murmelte sie und hielt sich sicherheitshalber an der Tischkante fest. Ihre Knie waren weich wie Gummi. Aber es wurde schnell besser.
„Ich wollte es dir eigentlich noch nicht zeigen. Erst, wenn es ganz fertig ist.“ Rocco trat hinter Maya und betrachtete über ihre Schulter das Bild. Er war wirklich groß geworden, wurde ihr bewusst. Wann war das passiert? „Aber ich weiß noch nicht genau, warum es noch nicht fertig ist. Irgendwas fehlt“, fuhr er unbeirrt fort.
„Rocco…“
„Vielleicht doch mehr Farbe?“
„Rocco…“
„Was meinst du? Die Konturen schärfer? Ich bin mir nicht sicher…“
„Du musst es übermalen.“
„Übermalen? Wirklich? Aber welchen Teil? Und warum?“
„Vollständig Rocco.“
„Vollständig? Findest du es nicht gut?“
„Ich finde es großartig.“
„Aber wieso…? Ich verstehe nicht…“
„Rocco. Du verstehst sehr gut.“
„Du hast doch gerade gesagt, es ist großartig.“
„Rocco, hör mir zu.“
„Wieso sagst du dann so etwas?“
„Hör mir zu.“
„Ich kapiere das nicht.“
„Hör mir zu!“, brüllte Maya ihn an. Rocco schwieg erschrocken. Maya holte tief Luft.
„Rocco, du kannst nicht so ein Bild malen ohne dir im Klaren darüber zu sein, dass du es zerstören musst.“
Der Junge trat einen Schritt zurück und starrte sie fassungslos an.
„Zerstören?“
„Was willst du denn sonst tun? Es aufhängen?“ Maya schnaubte.
„Aber wenn es gut ist…“
„Rocco, du willst mich nicht verstehen. Ich habe mir ein wenig mehr von einem Jungen erwartet, dessen Eltern seit 4 Wochen wegen Aufwiegelung der Bevölkerung im Gefängnis sitzen.“
„Halt den Mund.“ Roccos Augen funkelten böse, aber Maya konnte jetzt nicht still sein. Es war ihr egal, ob sie gerade klang wie ein Oberlehrer. Das hier war auch für sie wichtig.
„Nein, das werde ich nicht. Rocco weißt du denn nicht, wie gefährlich ein solches Bild ist? Weißt du denn nicht, was passiert, wenn irgendjemand dieses Bild sieht und dich bei den Mocovics hinhängt? Das ist genau so Aufwiegelung. Sie werden dich einsperren!“ Maya war wieder laut geworden.
Roccos Stimme dagegen war nur ein Zischen.
„Natürlich weiß ich, was passieren kann. Aber das glaube ich nicht. Nicht hier in diesem Viertel. Mocovics Männer sind hier nicht unterwegs. Sie überlassen uns doch seit Monaten uns selbst.“
„Sie sind überall“, entgegnete Maya fest.
„Und wenn schon. So eindeutig ist dieses Bild nicht. Ich wette, Mocovic würde sich sogar ziemlich gut getroffen fühlen und geschmeichelt sein.“ Er deutete auf das hämische Grinsen, das er Victor ins Gesicht gesetzt hatte. „So sieht er sich doch selbst.“
„Du bist völlig übergeschnappt. Rocco, ich erlaube nicht…“
„Moment, du erlaubst nicht? Seit wann kannst du mir etwas verbieten?“
„Seit du auch mich mit so einem Scheiß in Gefahr bringst!“ Maya kochte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du so feig bist.“ Enttäuschung und Vorwurf schwangen in seiner Stimme mit.
Getroffen zuckte Maya zurück. Rocco setzte nach.
„Du betrachtest dich selbst als Widerständler. Das tust du doch, oder? Du hasst ihn – diesen Patron und sein skrupelloses Gefolge. Wer hasst die nicht. Und du möchtest, dass sie verschwinden. Aber sie verschwinden nicht. Auch nicht, wenn man es sich noch so wünscht. Und mehr als fromme Wünsche hast du nicht.“
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