1 ...6 7 8 10 11 12 ...26 „Scar?“
Sie sah ihn als Monster. Sie sollte das Monster bekommen. Mit einem frustrierten Stöhnen griff er grob nach ihren Schultern und drehte sie mit dem Gesicht zur Wand. Tanja schrie überrascht auf, als er sie in den Nacken biss und seine Hände unter ihr Kleid schob.
Bitte, bitte, bittebittebitte aufhören! Maya wand sich auf ihrem Stuhl. Wie lange dauerte das denn noch? Wie konnte man sich nur so lange mit Details quälen, wenn noch nicht einmal das Grundgerüst feststand? Maya hatte den Fehler gemacht, sich nicht nahe genug an den Ausgang zu setzen. Jetzt saß sie eingekeilt zwischen Rudi, dem korpulenten Gemüsehändler und einem ihr nicht näher bekannten Betreiber eines Boxclubs, der sich alle paar Sekunden Erdnüsse in den Mund warf und schmatzend darauf herumkaute. Es waren knapp 40 Leute in Lucas Bierkneipe versammelt. Alle waren sich einig, dass ein Straßenfest stattfinden sollte: Nach einigem Hin und Her hatten sie sogar schon einen Termin festlegen können. Oliver, der einen kleinen Reparaturservice für Elektrogeräte betrieb und außerdem ein Händchen für Organisation hatte, war vorher bereits einstimmig zum Chef der Versammlung bestimmt worden. Und als solcher hatte er sich dann pflichtbewusst eine Menge Ideen zum Rahmenprogramm notiert. Danach wäre es für den heutigen Abend eigentlich genug gewesen. Die Teilnehmer hätten versprochen, die einzelnen Themen bis zum nächsten Treffen auf Machbarkeit zu überprüfen, sie hätten noch einen Termin für dieses Treffen ausgemacht und der Abend hätte ein annehmbar frühes Ende gefunden. Einige wären sicher noch bei Luca auf ein letztes Glas Bier geblieben. Andere, wie Maya, hätten sich aus dem Staub machen können.
Wenn nur Oliver sich nicht unglücklicherweise hatte erkundigen müssen: „Gibt es noch Fragen?“ Längeres, erleichterndes Schweigen. Dann, kurz bevor Maya sich ihre Tasche umhängen und aufstehen konnte, war tatsächlich noch eine Frage in den Raum geworfen worden. Und dann noch eine. Und noch eine. Silvia und Fiona aus der Bäckerei „Zuckerzeug“ interessierten sich für Details der besonderen Art. Wie etwa die Länge der Tische, eine einheitliche Dekoration und die Frage der Abendbeleuchtung. Kerzen oder Lampions? Obwohl Oliver sofort erwiderte, dass derlei Kleinzeug erst später besprochen werden sollte, übergingen ihn die Friesens aus der anderen Bäckerei des Viertels komplett. Diese starteten eine Diskussion, inwieweit das Straßenfest denn „normiert“ werden müsste und ob es nicht sinnvoller wäre, wenn jeder ganz allgemein und die vom „Zuckerzeug“ im Besonderen sich um seine eigenen Ideen und ihren eigenen Kram kümmerte. Das wiederum fand Fiona gar nicht lustig.
Seit geschlagenen anderthalb Stunden befanden sie sich nun in diesem Drama. Mayas Hintern tat weh. Sie wollte hier raus. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, wäre über den Tisch gestiegen und hätte die Kneipe polternd verlassen. Aber es war einfach nicht Mayas Ding, Aufmerksamkeit zu erregen. Sich leise im Hintergrund zu halten war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Nicht einmal bei so banalen Treffen konnte sie diese Angewohnheit ablegen. Der Weg rechts über den Boxer war versperrt. Der saß so ungünstig in einer Ecke, dass er Maya schon über sich hinwegheben hätte müssen. Und Rudi auf ihrer anderen Seite zu bitten, mal kurz Platz zu machen, funktionierte ebenfalls nicht. Denn Rudi hatte die Gelegenheit genutzt, seine persönliche Fehde gegen die Friesens in die Diskussion mit einfließen zu lassen. Rudi hatte schon einen hochroten Kopf von den ganzen geplärrten Vorwürfen, die er dem Bäcker und seiner Frau vor den Latz knallte. Maya fürchtete ernsthaft, Rudi könnte in den nächsten Minuten eine lebenswichtige Ader platzen und sein massiger Körper würde tot neben ihr von der Bank gleiten. Wenigstens wäre dann der Weg frei, dachte sie zynisch, lehnte sich zurück und schloss resigniert die Augen.
„Hey, sag mal schläfst du?“ Elias boxte ihn in die Seite. Scar zuckte genervt.
„Was denn?“, knurrte er zurück. „Ich hab doch die ganze Zeit die Augen offen.“
Elias grinste.
„Es gibt Leute in dieser Stadt, die beim Leben ihrer Mutter schwören würden, dass Scar Mocovic immer mit offenen Augen schläft.“
„Keine, die ich kenne.“ Scar hatte keine Lust sich mit Elias zu unterhalten. Er war müde und frustriert. Sein Bruder hatte „nur mal schnell“ in diesen neuen Club gehen wollen. Das „Fix“ war ein dunkler Keller, ohne Glamour und Getue. Eigentlich gefiel es Scar in solchen Clubs besser, als in den VIP-Bereichen der Nobeldiscos. Doch ihre Bekanntheit hatte in den kleinen Kellerbuden ihren Pferdefuß. Die Leute erwarteten einfach nicht, dass plötzlich der Patron mit seinem Gefolge einmarschierte. Hier im "Fix" war es nicht anders gewesen. Die Gäste hatten aufgehört zu tanzen und waren möglichst unauffällig zu ihren Freunden gehuscht. Der Besitzer war förmlich vor ihnen gekrochen und hatte ihnen mehrfach versichert, er werde alles tun, damit sie sich wohlfühlten. Die Musikauswahl hatte gewechselt - von speziell zu austauschbar und die Frauen hatten nervös an ihren Klamotten herumgezupft und zu Boden geblickt. Kurz: Die Mocovics hatten Angst verbreitet. Und genau das war es, was seinen Bruder daran reizte, einen solchen Club auszusuchen. Die halbe Stunde voller Befangenheit und Angstschweiß gefiel ihm. Dann war sein Ego entweder befriedigt, oder angestachelt. Heute, so vermutete Scar, würde es noch lange nicht vorbei sein. Wie zur Bestätigung knallte Victor sein leeres Wodkaglas auf den Tresen und tönte über die Musik hinweg:
„Lasst uns von hier abhauen und noch ein wenig das Viertel unsicher machen!“
Carl und Shorty – Nummer eins und zwei seines Gefolges – nickten begeistert. Wobei Shorty nach einiger Zeit für ihn sicher harten Nachdenkens ungläubig fragte:
„Was? Du willst zu Fuß gehen?“
Victor legte seinen Arm um Shortys Schulter und zog den kleinen, mausartigen Kerl zu sich heran.
„Ist es schon zu spät für dich? Hast du Fußschmerzen? Oder muss mein Kleiner etwa ins Bett?“
„Nein, Vic! Natürlich nicht. Aber du bist der Patron, da dachte ich…“
„Nicht denken, Shorty.“
Victor hob den Kopf und blickte in die kleine Runde.
„Ich hab einfach Bock drauf. Lasst uns sehen, was in dieser Ecke sonst noch so geboten ist.“
Scar bemerkte, wie Victors Augen glänzten. Es sah nach Vorfreude aus. In Scars Magen bildete sich ein bitterer Klumpen. Victor hatte wirklich noch nicht genug. Er wollte mehr. Mehr Angst, mehr Schrecken, Adrenalin, vielleicht ein wenig Blut. Scar hoffte inständig, dass er sich irrte und er heute nicht gezwungen sein würde, eine von Victors Eskapaden zu verhindern.
„Los kommt schon!“, rief sein Bruder ihm und Elias zu. Scar seufzte und leerte sein Bier. Dann folgte er Victor zum Ausgang. Er glaubte, ganz deutlich wahrzunehmen, wie hinter ihnen ein kollektives Ausatmen durch den Keller ging. Sie traten hinaus in die kalte Nachtluft und wandten sich nach rechts. Scar checkte kurz die Lage. Auf den Straßen war nicht viel los. Die meisten Läden und Häuser waren bereits dunkel. Doch das musste noch nichts heißen. Auch in einem dunklen Viertel – oder gerade dort – konnte viel passieren. Dabei machte sich Scar weniger Sorgen um die Sicherheit seines Bruders. Carl und Shorty waren mehrfach bewaffnet und folgten Viktor wie zwei Schatten. Nein, ein solches Viertel würde vielmehr den Einzelnen, die hier herumliefen, nicht viel Schutz bieten. Hier konnte Victor in aller Seelenruhe kaputtmachen, was immer er wollte. Und wenn es nur ein altes Auto, ein kleines Schaufenster oder ein Kieferknochen war. Niemand würde davon erfahren.
Читать дальше