Die Ablösung erfolgte fliegend. Lubina sagte nur, sie wolle spätestens gegen fünfzehn Uhr dreißig zurück sein. Jetzt sitzt Rita im Gruppenraum und grübelt vor sich hin. Und dann von einem Moment zum anderen versetzt ein Adrenalinstoß ihren Körper. Nach einem Moment des Lauschens springt sie auf und läuft zur Garderobe. Die Kinder springen auch von ihren Pritschen und laufen ihr nach, Mara voran.
In der Garderobe ist niemand, kein Elternteil, auch nicht Lubina, wie vermutet. Was hat sie nur erwartet? Stellt sie sich mit Susan auf eine Ebene? Warum? Und dann fällt es ihr ein, woran sie einen winzigen Moment lang gedacht hatte: Weil Jens vor Jahren Lubina verschmäht hat, kann es doch sein, dass sie auch ihr Böses will. Irgendein Instinkt in ihr ist erwacht, aber sie ist kein Tier, sie weiß nicht, warum sie derart in Unruhe gerät.
Später, als Rita wieder ruhiger ist, die Dinge wieder in ihren richtigen Dimensionen sieht, begreift sie, wie absurd sie selbst schon reagiert. Sich vorzustellen, wie Lubina auf Susan losgeht – einfach grotesk. Erst recht, wenn sie sich vorstellt, in Panik zu geraten, weil Lubina Kieschnick auch auf sie losgehen könnte.
Die Kinder auf ihren nackten Füßen mit sich führend geht sie zurück zum Gruppenraum. Das Spielzeug liegt verstreut, die Hausschuhe der Kinder unter den Pritschen sind vertauscht, die Strumpfhose eines Mädchen ist über ihren halbnackten Po gerutscht. Das alles ist rasch geordnet. Sie holt die Steckspiele aus dem Schrank und zeigt den Kindern, wie man tolle Muster stecken kann, dann räumt sie die Liegen in die Remise und setzt sich mit an den niedrigen Tisch. Sofort ist Mara bei ihr, legt ihr Köpfchen an Ritas Schulter und hebt das Steckplateau an: »Sieh mal, Mama Rita.«
Rita sieht nichts als einen kunterbunten Teppich aus Stecksteinen, aber sie ist erschrocken über die Worte. Eines der Mädchen stupst Mara an und sagt in garstigem Ton: »Das ist doch nicht deine Mama! Das ist Tante Rita.«
»Aber jetzt ist sie meine Mama und Timi ist mein Bruder. So.o.o…!« Mara treten Tränen in die Augen, aber sie weint nicht. Sie wirft trotzig das Steckspiel gegen das Mädchen, das im Nachbardorf wohnt und jeden Morgen von seiner Mutter mit dem Auto hier abgeliefert wird. Manchmal wird sie von der Großmutter abgeholt und manchmal kommt die alte Frau ganz grundlos herein, um mit Lubina oder auch mit der Kleinen zu reden. Sie wohnt ja gleich gegenüber.
»Mara « schimpft Rita energisch. »Das ist wirklich sehr ungezogen. Lydia hat doch Recht. Deine Mama ist krank, deshalb kann sie nicht hier sein. Und ich kümmere mich um dich – ich und Onkel Jens – bis deine Mama wieder gesund ist.«
Die Lüge drückt Rita beinahe die Kehle zu, aber sie muss Mara belügen. Der Einzige, der das Recht hat, Mara die Wahrheit über Susan zu sagen, ist Mark.
Aber genau diesen Gedanken hat sie zu voreilig gehabt.
»Papa sagt aber, du bist jetzt meine Mama.«
»Und? Wer ist dann dein Papa?«
Mara schiebt eine vorwitzige Locke aus ihrer Stirn und legt ihren Kopf trotzig in den Nacken.
»Na Papa ist mein Papa! Weil der Onkel Jens kauft mir ja nicht so schöne Sachen.«
Die kleine Mara hat ihr bisher immer ein bisschen leid getan. Für ein so kleines Mädchen ist sie mit völlig falschen Werten geschlagen. Auch wenn sie ein sehr hübsches Kind ist, sie misst der Kleidung und all den Dingen, die sie ihr Eigen nennt, schon zu viel Bedeutung bei. Anerzogen? Eine Frage des Typs?
Rita entscheidet sich für anerzogen und nimmt sich vor, die kleinen Triebe falscher Wertvorstellungen behutsam zu kappen, so wie Jens die ungeliebten Triebe an den heranwachsenden Bäumchen im Garten kappt. Jedes Jahr aufs Neue. Nur eines wird ihr schwer fallen, Mara zu sagen, dass ihr Papa in dieser Frage unrecht hat.
Rita atmet hörbar laut. Das Schlimme an der Sache ist, dass Mark eine Absicht dahinter verbergen könnte. So gesehen missbraucht er sein Kind für seine eigenen, schändlichen Interessen. Schändlich, weil total egoistisch und darüber hinaus nur vorübergehend. Soweit kennt sie Mark inzwischen.
Sie hatte zwar vergessen, dass Mark auch früher immer mal wieder Affären hatte – vor Susans Zeit – aber das alles ist jetzt ohne Belang. Jetzt lebt er in einer Ausnahmesituation. Einen Schock über sein Schicksal, in das er sich fallen sieht, könnte sie Mark durchaus verzeihen, aber diese gewisse peinliche Situation in diesen Räumen lag ein paar Tage vor Susans «Unfall».
Lubina hat nicht Wort gehalten. Erst gegen sechzehn Uhr kommt sie atemlos und im einigermaßen derangierten Zustand zurück. Zu diesem Zeitpunkt kommt auch die Großmutter von Lydia in Holzpantinen über den Dorfanger gelaufen, um das Mädchen abzuholen, dessen Mutter sich heute verspäten würde, wie sie zu Lubina sagt. Die Frauen schwatzen in einer Art Sprachen-Mischmasch, bei dem Rita zumeist verstummt, weil sie das Wendische noch immer nicht gut versteht. Oder, weil sie vom Klatsch des Dorfes nichts weiß, nichts wissen will? Aber diese beiden Frauen, diese Großmutter und Lubina, die verbindet diese Sprache, das spürt Rita.
Noch hat sie keinen Grund, ihre Anwesenheit in der Kita als beendet anzusehen. Noch hat sie mit Lubina kaum ein Wort reden können, da überfällt sie ein Quäntchen Neugier.
»Na und?«, sagt die Alte gerade, » haste nu’ was unternommen? «
»Es fragt mich ja niemand.«
»Wer soll schon fragen? Wenn keiner nicht weiß, dass ein Kerl hier war.«
Und dann sagt Lubina zu Rita – es klingt wie nebenbei - sie habe am Abend, als das Unglück mit Susan passiert ist, einen Mann gesehen, aber darüber wolle sie nicht öffentlich reden. Der Wirkung ihres Blickes kann sich Rita kaum entziehen. Verschwörerisch. Sensationslüstern. Dennoch bemerkt sie auch die fröstelnde Haut auf Lubinas Wangen. Offenbar macht sie nicht von ungefähr so vielsagende Worte. Sie redet um etwas herum, was sie viel zu gerne herausplaudern würde.
»Wann war das?«
»Gegen fünf Uhr«, verrät sie frei heraus, als habe sie auf eine Frage gewartet.
»Ein Kerl also?«
Lubina hebt abwertend die Hand und schüttelt den Kopf: »Ein huschendes Etwas.«
Rita zeigt zum Fenster hin, das zur Straße zeigt. Dort bietet sich jener Anblick, der den Kindern zur Herbstzeit am Spätnachmittag schon etliche Male Angst eingeflößt hat.
»So huschend wie das da?«
»Das ist ein Thuja – Sie können auch Lebensbaum sagen – aber das ist ganz bestimmt kein Mann.«
Rita kann mit dieser Version genauso wenig anfangen wie einst, als Lenka Kalauke im Gerangel zu Schaden gekommen ist. Man muss kein Verbrechen begehen wollen, trotzdem kann jemand ungewollt zu Boden gehen, und wenn es nur vor Schreck ist. Ein Verbrechen wäre allerdings die unterlassene Hilfeleistung. Das war damals bei Lubinas Bruder Janko vermutlich so, und das wäre jetzt bei Lubina so. Aber das wird sie der Frau nicht sagen.
»In dieser Zeit, Frau Kieschnick, fahren die meisten Autos durch den Ort, und die Schatten huschen an den Wänden herum …«
»Ein Schatten ist flach wie `ne Flunder. Und `ne Flunder war dort nicht. Es war ein Mensch mit zwei Beinen, ein Mann, so groß wie …« Lubina hebt die Stimme und zugleich die Schultern, und Rita hat das Gefühl, dass es die Frau genau auf diesen Moment angelegt hat. »…Wie Ihrer ungefähr.«
Ihre Verwirrung darf sie Lubina nicht zeigen. Die alte Frau nimmt ihre Hände vor den Mund und schaut aus weit aufgerissenen Augen von Rita zu Lubina, immer hin und her. Die Alten mögen den Jens und lassen nichts auf ihn kommen, nicht einmal von Lubina Kieschnick, wie es scheint.
»Und warum haben Sie nicht nachgesehen? Ich meine, die Kita ist doch auch Ihre Einrichtung. Niemand hätte soviel Recht, nach dem Rechten zu sehen, wie Sie.«
Lubinas gibt sich alle Mühe, ihre Züge im Zaum zu halten, aber aus ihren Augen sticht plötzlich eine züngelnde Flamme, die Rita erschaudern lässt. Offensichtlich ist es mit ihrem Kennerblick doch nicht so weither, denkt sie nur, dann wendet sie sich der alten Frau zu, deren Enkelin noch friedlich mit Mara spielt. Sie kommt aber zu keinem weiteren Wort.
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