Dass sie schon einmal in dem Haus gewesen war und die Päckchen voller Gras gesehen hatte, daran erinnerte sie sich nicht mehr. Diese Tatsache war im selben geistigen Tresor verschlossen, in dem auch Laras Schicksal lag. Und dieser Tresor stieß Cassandras tastende Gedanken ab wie ein magnetischer Pol einen gleichartigen Pol abstieß. Ihre Erinnerung glitt einfach seitlich ab.
“Ist das jetzt wichtig, woher ich das weiß?”, fragte sie.
Nick betrachtete sie misstrauisch. “Nein...”, sagte er, “...wahrscheinlich nicht.”
“Dann komm. Toby muss heute alleine nach Hause.” Sie stand auf und ging zur Busstation, ohne zu schauen, ob Nick ihr folgte.
Kapitel 6: Westcott Manor
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Es war schon ein Kreuz mit dieser Cassandra. Nick glaubte, das besser zu wissen als jeder andere. Da machte er diesem Mädchen nun seit Wochen den Hof, nachdem Toby so erbarmungslos abgeblitzt war, und bekam außer ihren wechselnden Launen keinerlei Entschädigung für seine Mühen. Kein netter Blick, kein liebes Wort und nicht das leiseste Anzeichen von Interesse an seiner Person. Einfach nichts. Stattdessen schien dieses Mädchen ständig mit sich selbst beschäftigt zu sein. Sie war pausenlos am Grübeln, als hätte sie alle Geheimnisse der Welt zu lösen. Manchmal war sie nicht einmal ansprechbar, in ihren merkwürdigen, tranceartigen Zuständen. Oft starrte sie nur in die Luft, wie ein Duracell-Kaninchen, dem die Lithium- Batterien ausgegangen waren. In solchen Momenten war Nick klar, dass er wohl das Letzte war, an das Cassandra gerade dachte, und er wünschte sich, er hätte genug Courage, sie so lange zu schütteln, bis sie ihn endlich zur Kenntnis nahm. Aber das passierte nicht, und Nick blieb nichts anderes übrig, als diesem Mädchen geduldig zu folgen und abzuwarten, wohin sie ihn führte. Dass sie ihn gerade in diesem Moment in ein schlimmeres Schicksal als den Tod führte, konnte er nicht ahnen.
Sie stiegen außerhalb der Stadtgrenze von Brickrow an der Station Westcott Manor aus und warteten, bis der Bus zischend davonfuhr, bevor sie in seiner Abgaswolke die Landstraße überquerten. Sie hatten beide ihre schwarzblaue Schulkleidung an. Die Rucksäcke baumelten ihnen von der Schulter.
Die Brickrow Grammar School hatte vor einigen Jahren die Pflicht zur Schuluniform abgeschafft und dafür einen weniger strengen Dress-Code eingeführt, der den Schülern vorschrieb, züchtige Kleidung in den traditionellen Farben Blau und Schwarz zu tragen. Züchtige Kleidung bedeutete in diesem Fall blaue Blazer, sowohl für Jungs, als auch für Mädchen (ohne Ausschnitt, was Mädchen anbetraf) und schwarze Hosen, oder Röcke, die über das Knie reichten. In den kalten Monaten waren auch den Mädchen Hosen erlaubt, oder dicke Röcke mit Wollstrümpfen, wobei sich Cassandra an die Hosen hielt und dabei den Toleranzspielraum bis an die Grenze auslotete, indem sie Hosen mit trompetenförmigen Hosenbeinen trug. Über ihrem Blazer trug sie eine dicke dunkelblaue Jack Wolfskin- Steppjacke, die den kalten Wind abhielt.
Auch Nick trug eine warme Jacke, an deren Nylonfaser sein Rucksack ständig herabrutschte. Er folgte Cassandra über die Straße und den schmalen Weg hinab zum Westcott Manor , das hundert Meter weiter am äußersten Ausläufer des Moores stand. Man konnte das grünlich weiße Haus von der Landstraße aus sehen, wie es im Moor lehnte, als würde es sich vor Lachen nach hinten biegen. Die Eingangstür ragte, anders als auf Cassandras Fotos, nur zum oberen Drittel aus dem sumpfigen Boden, und die ehemalige Terrasse, auf der einst Korbstühle gestanden hatten, war vollends versunken.
Ein paar Meter vor dem Haus stand ein weißgetünchtes Schild mit der Aufschrift:
EINSTURZGEFAHR
BETRETEN VERBOTEN
Nach einem kurzen Blick auf die versunkene Eingangstür, sagte Cassandra: “Wir müssen durch eines der Fenster steigen.”
Nick konnte nicht glauben, dass Ron sein Gras in dieser Ruine versteckte. Die Idee war einfach dämlich, und doch zugleich genial. In den Sommermonaten kamen hier täglich Touristen vorbei und sahen sich das Haus an, und nur dieses halb vermoderte Schild verhinderte, dass einer ins Haus stieg und die von Ron hinterlassenen Spuren fand. Das konnte Nick gerade noch akzeptieren, aber was er nicht glauben konnte, war, dass kein anderer Jugendlicher jemals auf die Idee gekommen war, hier sein Geheimversteck einzurichten. Vor allem Kinder wurden doch von solchen Ruinen magisch angezogen. Hatte Ron sie alle erwischt und ihnen mit Prügeln gedroht, wenn sie etwas davon ausplauderten? Und wieso wusste Cody Barnes nichts davon? Er hatte Ron schon oft mit kleinen Mengen Gras erwischt, aber hätte er gewusst, dass Ron hier ein Lager hatte, dann hätte Barnes ihn nicht so schnell wieder nach Hause geschickt. Aber wenn Barnes nichts davon wusste, dann hatte die Polizei das Haus wahrscheinlich auch nicht durchsucht und das bedeutete...
“Cass?”, sagte Nick.
Cassandra wandte den Blick vom Westcott Manor ab. Sie war sich noch nicht sicher, durch welches Fenster sie steigen sollten. “Sag nicht, dass du jetzt kneifst”, warnte sie.
“Nein”, sagte Nick, “aber ist dir schon die Idee gekommen, dass Ron vielleicht da drin liegt?”
“Ja”, sagte sie und setzte sich in Bewegung. Sie lief vorsichtig über den weichen Moosboden bis zum halbvergrabenen Geländer. Die Farbe war schon lange abgeblättert, und das Holz hatte eine grünlich graue Farbe angenommen.
“Du scheinst wirklich keine Bedenken zu haben. Hast bestimmt schon viele Leichen gesehen.”
“Rede keinen Schwachsinn. Da sind keine Leichen.”
“Und woher willst du das wissen?”
Cassandra antwortete nicht. Sie trat näher an die weiße Holzplankenwand des Hauses und betrachtete die Fenster zum ersten Stock, deren unterer Rahmen ein gutes Stück über ihrer Augenhöhe lag. Sie versuchte herauszufinden, durch welches Fenster Ron gestiegen war. Sie waren alle verschlossen und würden nach innen fallen, wenn man sie öffnete, darum muss Ron einen Trick gekannt haben, um sie nicht zu beschädigen. Und sie auch wieder von außen zu schließen. Aber hier war nichts. Diese Fenster waren seit Jahren nicht geöffnet worden.
“Lass uns hinter das Haus gehen”, sagte sie.
Nick folgte ihr resigniert. Er ahnte, dass sie hier nichts Gutes finden würden. Falls die Polizei das Haus durchsucht hatte, dann hatte sie auch alle Drogen mitgenommen, aber falls die Polizei das Haus nicht durchsucht hatte, dann war die Wahrscheinlichkeit doch recht hoch, dass sie hier auf Rons Leiche stoßen würden. Oder etwa nicht? Nick hielt es für unwahrscheinlich, dass ein Junge für drei Tage verschwindet und dann wohlbehalten wieder auftaucht, nachdem die Polizei die ganze Stadt nach ihm abgesucht hatte. Nein, Sir. Nick glaubte, dass Ron in seinem Versteck mit harten Drogen experimentiert hatte und dabei, nun... gestorben war. Jetzt würden sie ihn hier finden, mit trockenem Schaum vor dem grauen Gesicht. Die Augen offen und silbrig.
“Du musst mir helfen”, sagte Cassandra. Sie war um das Haus herumgelaufen und stand jetzt im Schatten der geneigten Seite. Das Haus sah aus wie eine kleine, eckige Version des Schiefen Turms von Pisa. Nick schauderte bei dem Gedanken, dass es sich gerade jetzt entscheiden könnte umzufallen, um sie beide mit einem platschenden Knall unter sich zu begraben. Sie würden daliegen mit der harten, unnachgiebigen Wand über sich und dem weichen sumpfigen Boden unter sich und minutenlang auf den Tod warten.
“Was soll ich tun?”, fragte er.
Sie deutete auf eines der überhängenden Fenster. “Dieses Fenster muss nach oben geschoben werden, um es zu öffnen. Ich weiß nicht, wie Ron das gemacht hat, aber ich komme dran, wenn du eine Räuberleiter machst.”
Nick stöhnte innerlich beim Anblick von Cassandras festen Stiefeln und dem Schlamm im Profil, aber er legte seinen Rucksack ab und verschränkte die Hände zu einer Räuberleiter. Cassandra warf ihren Rucksack neben seinen und trat vorsichtig in seine Hände. Etwas verspätet kam ihr die Idee, “Danke” zu sagen.
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