Nick hob sie mit einem Ruck hinauf, und für einen Moment stand sie unsicher in der Luft, nach hinten geneigt zwischen Nick und dem schrägen Fenster. Sie musste mit einem Bein balancieren, um nicht zu fallen, und wirkte wie eine todgeweihte Seiltänzerin.
“Mach schnell”, stöhnte Nick. Er konnte ihr Gewicht kaum halten. Die tiefen Rillen ihrer Winterstiefel drückten seine Finger auseinander, und Cassandras Körpergewicht drückte ihn mit den Füßen voran in den weichen Boden.
“Eine Sekunde!” Sie fummelte am Fensterrahmen. Spröde Farbsplitter platzten ab, bevor sie die Fingerspitzen in den Spalt zwischen Fenster und Rahmen drücken konnte und das Fenster mit einem Ruck zur Hälfte aufschob. Sie griff fester zu und schob es ganz auf. Dann ließ Nick sie fallen.
“Scheiße”, rief sie, während sie mit beiden Armen an der Fensterbank hing und strampelte. Schlammbrocken fielen auf Nick herab, der sich die schmerzenden Finger rieb.
“Halt still!”, rief er. Er versuchte ihre Beine zu fassen zu bekommen, kassierte aber nur Tritte gegen die Hände.
“Nick, verdammt, ich hänge in der Luft!”
“Halt still! Du reißt noch das ganze Haus mit runter.”
Cassandra zwang sich stillzuhalten. Sie hatte nicht Angst davor herunterzufallen - sie hing keine zwei Meter über dem Boden - , sondern davor, die alte faserige Fensterbank loszulassen. Wenn sie das tat, würden ihre Fingerkuppen nur noch aus Splittern bestehen.
“Okay, ich hab dich”, sagte Nick. Er hatte sich unter sie gestellt und schob die Schultern unter ihre Füße. Sein Rücken ächzte und er sank in das weiche Erdreich, als er Cassandra anhob.
“Jetzt zieh dich rauf!”
Mit einer schon unrealistischen Kraftanstrengung zog sich Cassandra am Fensterrahmen hoch. Wie ein Korken drückte sie sich in die Höhe und schwang ein Bein über die Fensterbank. Dann ließ sie sich darüber rollen und hatte das verwirrende Gefühl nach oben zu fallen, als sie den schrägen Teil der Wand unter dem Fenster hinabrollte. Sie landete in der Kante zwischen dem hölzernen Parkettboden und der goldbraunen Tapete. Sie stöhnte vor Anstrengung.
“Alles klar da oben?”, rief Nick.
“Ich bin heil”, rief sie zurück und versuchte aufzustehen. Das war nicht einfach. Der Boden war nicht allzu schief, man konnte darauf laufen, aber trotzdem reichte die Neigung aus, Cassandras Gleichgewichtssinn zu stören. Ihr Gehirn schickte ihr ein konstantes Warnsignal: Vorsicht, das Haus kippt!!!
Sie lief ein paar zögerliche Schritte in den Raum hinein, um die Tragkraft des Holzfußbodens zu testen. Erst als sie sicher war, dass sie nicht durch den Boden ins untere Stockwerk brechen würde, wagte sie, sich genauer umzusehen.
Das Zimmer, in dem sie stand, war lichtdurchflutet und leer. Der Parkettboden hatte sich durch die jahrelange Belastung verzogen, und stellenweise klafften zentimeterbreite Spalten zwischen den Holzdielen. Es war sehr staubig, und auf den Dielen zeichneten große, helle Flecken die Standorte der nicht mehr vorhandenen Möbel nach. Rechts an der Wand schien mal ein großes Bett gestanden zu haben. Die braune Tapete zeigte ein sehr viel helleres Rechteck, wo das Kopfteil des Bettes gewesen war. Gegenüber von Cassandra, an der Wand neben der Tür hatte ein großer Schrank gestanden, und an allen Wänden ringsum hatten Bilder gehangen.
“He, ich werfe dir die Rucksäcke rauf!”, tönte es von draußen.
Sie wankte zurück ans Fenster und bekam ihren Rucksack fast ins Gesicht geworfen. “Pass auf, verdammt!”
Nick stand unten und schaute rauf. “Hast du ihn? Achtung, jetzt kommt meiner.”
Sie fing auch den zweiten Rucksack auf, sein Inhalt war schwer und kantig, und legte ihn beiseite. Jetzt war die Frage, wie sie Nick raufholen sollte.
“Ich springe”, sagte er. “Versuch nicht, mich raufzuziehen, ich würde nur den Halt verlieren. Tritt einfach zurück, ich schaff das.”
“Stimmt, du bist hier das Sport-Ass”, sagte Cassandra und trat zurück. Sie hörte ein Schnaufen und Nicks schlammige Finger krallten sich in die Fensterbank. Dann zog er sich weitaus eleganter als sie durch das offene Fenster. Er setzte einen Fuß auf die Fensterbank und sprang ins Zimmer. Als er sicher stand, sagte er: “Ich halte jede Wette, dass Ron einen anderen Eingang kennt.”
“Ja”, musste Cassandra zugeben, “wahrscheinlich geht er doch vorne rein.”
Nick klopfte sich den Dreck von der Kleidung. Auf den Schultern seiner Jacke prangten zwei grobe Schuhabdrücke. “Hauptsache wir sind drin. Lass uns den Stoff suchen.” Er trat probeweise auf das lockere Parkett. “Wenn dieses Haus umkippt, während wir drin sind, wird die Polizei nach drei Vermissten suchen müssen.”
Sie gingen zur Tür. Sie war geschlossen, schwang aber sofort auf, als Cassandra die Klinke runterdrückte. Ein Schwall trockener Furzluft wehte ihnen entgegen, und unter diesem Geruch lag noch ein leiser Hauch von Keller und Schimmel.
“Ein Wunder, dass sich hier nicht mehr Schimmel festgesetzt hat”, meinte Nick.
Cassandra sah sich im Flur um. Nach so vielen Monaten der Ungeduld war sie hier im Inneren des Westcott Manor . Ein Kribbeln fuhr ihr durchs Rückgrat, als sie sich vorstellte, was sie wohl am Ende dieses düsteren Flurs entdecken mochte.
“Weißt du, wo er es hat?”, fragte Nick. Seine Vorfreude galt natürlich viel Profanerem. Cassandra würde erst sehr viel später darauf kommen, dass Nicks und Rons Drogenkonsum zu ihrer ganz eigenen kleinbürgerlichen Transzendenz führte.
Traum, Rausch und Wahn.
Liebe zur Kunst, Demut und Transzendenz.
Etwas fehlt noch, aber was?
Es müssen dreimal drei sein, oder?
Ja.
Aber was ergeben diese dreimal drei?
Ist das denn nicht längst offensichtlich?
“Hey, hörst du mir zu?”
Cassandra schüttelte den Kopf.
“Ich sagte, ich kenne den Grundriss des Hauses.”
“Den kennt doch jeder”, sagte Cassandra. Jeder Einwohner Brickrows kannte die Touristenprospekte mit ihren Bildern und Anekdoten der Stadt. Darin waren auch Fotos vom Inneren des Westcott Manor .
“Dann lass uns den Stoff suchen und verschwinden, bevor dieses Ding umkippt.”
Sie suchten nach Orientierungspunkten im Haus, und beschlossen, am besten alle Zimmer im ersten Stock zu durchsuchen und dann mit dem Dachboden weiterzumachen, bevor sie sich nach unten begaben. Cassandra war sich nicht sicher, ob sie Vorfreude oder Angst empfand, wenn sie daran dachte, dass sie bei ihrer Suche möglicherweise bis nach unten in das versunkene Erdgeschoß und den Keller vordringen mussten. Sie warf einen Blick links über das Geländer, wo die vermoderte Treppe nach unten führte, aber sie sah nur die gefächerten Holzstufen, die ins Dämmerlicht führten. Sie fragte sich, ob die Fenster wohl dem Druck der Erde standgehalten haben. Falls nicht, würden sie wahrscheinlich durch feuchten Moorboden waten müssen.
Nick war zur nächsten Tür gelaufen, insgesamt gab es davon vier, zwei links, zwei rechts. Er drückte die Klinke der rechten Tür hinunter und lugte in den Raum. Ein Blick, und Enttäuschung erschien auf seinem Gesicht. Cassandra trat neben ihn und sah einen leeren Raum, ähnlich dem, durch den sie das Haus betreten hatten. Außer hellen Möbelflecken war hier nichts. Ihr fiel auf, dass hier kleinere Möbel gestanden hatten, Möbel in Kindergröße.
Nick murrte. “Wenn Ron das Zeug unter einer Bodendiele versteckt hat oder hinter einer Wand, dann suchen wir hier bis in die Nacht hinein. Weißt du wirklich nicht, wo er es hat?”
“Nein, glaub mir einfach.” Sie betraten das leere Zimmer, und Nick klopfte lückenlos, aber nicht besonders geduldig, den Boden und die Wände ab, das dauerte zehn Minuten, aber sie fanden keine Hohlräume; das heißt, sie fanden eine Menge Hohlräume, aber keine, die mit Drogen gefüllt waren. Einmal flitzte eine kleine graue Maus vor ihnen davon, und Nick lachte. “Also die hat keinen Stoff gefunden, sonst wäre sie um einiges langsamer.”
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