Es ist eine Einladung , dachte er. Es grinst wie ein Wahnsinniger, der dich zu sich nach Hause einlädt.
Nora und Cassandra kamen zum gleichen Schluss. Es war ganz offensichtlich eine Einladung. Kommt doch zum Tee! Entspannt euch! Bleibt zum Sterben!
Schnell wechselte Cassandra zum nächsten Bild. Es war das gleiche wie zuvor.
Sie holte das nächste Bild hervor und ließ es beinahe fallen. Es zeigte sie selbst, wie sie oben auf dem Hügel stand und Brickrow fotografierte.
Das nächste zeigte sie und Toby im Wald. Sie sahen sich die Schienen an.
Das nächste zeigte ihren Weg zum Archiv.
Das nächste zeigte Nora.
Das nächste Cassandra, Toby und Nora...
Das nächste...
Das nächste...
Das nächste...
Sie ließ die Fotos in Tobys Hand fallen. Sie hatte genug gesehen. Für eine Weile schwiegen die Drei. Diese Situation war einfach zu absurd. Kein Grund zur Angst. Es war einfach zu absurd. Einfach absurd. Einfach...
Noras große Augen zwinkerten in dem Bemühen, Sinn aus den Bildern zu lesen. “Jemand anderes hat diese Fotos geschossen und sie dann mit deinen vertauscht. Was denkt ihr?”
“Wenn das wahr ist, wäre das nicht besser als unsere Spuktheorie.”
“Es wäre schlimmer”, sagte Cassandra. “Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Psychopathen, der uns verfolgt und fotografiert, und einem dämlichen Geist, dann wähle ich den dämlichen Geist.”
“Und ein Verrückter kann uns keine Halluzinationen bescheren.”
Nora sah es ein. Kein Psychopath also.
“Leute...”, sagte Cassandra plötzlich. Sie hatte Toby die Bilder wieder abgenommen und sie durchgeblättert. Der Tonfall ihrer Stimme verhieß nichts Gutes. Sie betrachtete das erste Bild mit dem Westcott Manor darauf.
Nora und Toby beugten sich vor und sahen es ebenfalls.
“Die Tür war doch gerade eben noch geschlossen.” Nora nahm ihr das Foto aus der Hand. Die weiße Tür mit den schwarzen Fensterscheiben darin stand jetzt offen, als würde das Haus auf Gäste warten. Dahinter war es dunkel wie in einem Keller.
“Es will, dass wir zu ihm kommen”, sagte Nora.
“Ihr wollt doch nicht wirklich in ein solches Haus gehen?”
“Nein”, sagte Nora.
“Doch”, sagte Cassandra.
“Das meinst du doch nicht ernst?”
“Reg dich ab”, sagte Cassandra. “Was soll schon passieren?” Sie sprach ganz ruhig, aber in ihrem Inneren brodelte die Erregung.
“Entschuldige bitte, ich wäre gerne auf deiner Seite, aber er hat recht. Diese Dinge sind bizarr. Und wann ist etwas Bizarres auch jemals etwas Gutes ? Schau dir die Bilder an. Und das Haus. Glaubst du, dass dort drin wirklich etwas auf uns wartet, das uns wohlgesonnen ist?”
Cassandra sah es ein, aber sie war auch stur. Toby und Nora verstanden einfach nicht, dass man selten die Gelegenheit bekam, ein Wunder zu sehen, und dann ist es einerlei, ob das Wunder nun gut oder schlecht ist, es ist einfach ein Wunder verdammt. So etwas ließ man sich nicht entgehen, weil man eine solche Gelegenheit unter Umständen nie wieder bekam.
Aber statt ihnen das zu sagen, schwieg Cassandra und zuckte nur die Schultern.
Toby sah, dass sie Cassandra auf der Kippe hatten und sagte: “Wir stimmen ab.” Er sah ihr und danach Nora in die Augen. “Ich weiß nicht, was ihr denkt, aber ich habe das Gefühl, dass wir in dieser Sache gleichberechtigt sein sollten.”
Nora stimmte zu, aber Cassandra blieb stumm. Ihre Augen klebten förmlich an dem Foto vom Westcott Manor . “Aber was, wenn die Visionen nicht aufhören?”, fragte sie.
Nora beugte sich zu ihr. Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. “Willst du denn, dass die Visionen aufhören? Was, wenn wir da hineingehen und das Rätsel lösen? Was, wenn wir mit einem Schlag alle Mysterien zerstören? Wenn nur noch die alte langweilige Welt bleibt?”
Toby sah, wie es in Cassandra arbeitete. Nora hatte sie genau getroffen. Mit dem ersten Schuss mitten ins Herz. Er war beeindruckt.
“Möglicherweise...”, Cassandra senkte das Foto, “...hast du recht.”
Und damit war die Entscheidung gefallen.
Kapitel 5: Zurück in die Gegenwart
1
Cassandra lag entspannt auf dem breiten Steingeländer der Brickrow Grammar School und betrachtete Nick beim Drehen seiner nadeldürren Zigarette. Der letzte Schüler hatte den Schulhof verlassen, und sie blieben allein zurück.
“Oh Toby, wo bleibst du?”, stöhnte Cassandra.
Nick steckte sich die Zigarette in den Mund und kramte nach einem Feuerzeug. “Entspann dich”, sagte er. Die Zigarette tanzte zwischen seinen Lippen auf und ab.
Cassandras Stimmung war in diesen Tagen am Tiefpunkt. Sie fühlte sich zunehmend gereizter. Sie hasste sich dafür, konnte aber nichts dagegen tun.
Nick fand sein silbernes Marlboro Sturmfeuerzeug, und ließ es aufschnappen. Er zündete die selbstgedrehte Zigarette an, ließ das Feuerzeug wieder zuschnappen und gab sich ganz seinen fünf Sekunden Rauchgenuss hin, denn so lange dauerte es, bis dieses zahnstocherdünne Ding abgebrannt war.
“Na das hat sich ja gelohnt”, kommentierte Cassandra.
Nick warf einen Blick auf die Eingangstür der Schule. Dort war es, bis auf ein paar leise, knallende Echos, ganz still geworden.
“Geben wir ihm noch ein paar Minuten. Wenn er nicht kommt, gehen wir uns was zu essen holen, was meinst du?”
Cassandra zuckte die Schultern. Sie überlegte, ob sie Nora einen Besuch abstatten sollte. Nora hatte diese fröhlich zurückhaltende Art, die Cassandra optimistisch stimmte.
Beinahe wie Lara.
Sie verdrängte den Gedanken. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Gegenwart.
Seit dem vorletzten Sommer und dem gemeinsamen Beschluss, das Westcott Manor nicht zu betreten, war
der Alltag in all seiner Wucht über sie hereingebrochen. Die Sommerferien waren vorübergegangen, und Cassandras Leben hatte seinen gewohnten Lauf genommen. Die bedrohlichen Erscheinungen des unsichtbaren Künstlers waren seltener geworden, bis sie nach einigen Tagen vollständig versiegt waren. Scheinbar hatte der unsichtbare Künstler das Interesse an ihnen verloren, und sich abgekehrt. Doch hatte er die Initialzündung zu einer Freundschaft geliefert, die unter sorgsamer Pflege zu verschwörerischer Intensität heranwuchs. Cassandras hatte zwei Freunde fürs Leben gewonnen. Zusammen bildeten sie die stabilste Form überhaupt: Ein Dreieck aus Liebe, Demut und Transzendenz. Ein selbsterhaltendes System, dass es sogar vermochte, Cassandras Seele langsam zu heilen. Und womöglich würde sie ganz geheilt, wenn Cassandra nicht vorher einen großen Fehler beging.
Sie sagte: “Was wenn ich wüsste, wo Ron Hauser sein Gras versteckt?”
Nicks Kopf ruckte herum. “Du verarscht mich.”
“Nein, wirklich.”
“Woher willst du wissen, wo er den Stoff bunkert?”
“Ich weiß es einfach. Willst du den Stoff haben oder nicht?”
“Klar will ich ihn haben. Ron braucht ihn sicher nicht mehr.”
Cassandra sah ihn an. “Sehr nett von dir. Kümmert es dich nicht, was aus ihm geworden ist?”
Nick zuckte die Schultern. “Die Polizei wird ihn schon finden. Hey, vielleicht ist es sogar besser, wenn wir den Stoff wegschaffen, sonst stecken die ihn noch wegen Rauschgiftbesitzes in den Knast. Von wie viel Stoff reden wir hier eigentlich?”
“Das weiß ich auch nicht”, gab Cassandra zu.
“Und woher weißt du dann, wo er ist?”
Diese Frage konnte sie auch nicht beantworten. Sie überlegte, wie sie auf den Gedanken kam, dass Ron sein Gras im Westcott Manor versteckte, aber ihre Erinnerung brachte ihr keine brauchbare Antwort. Sie wusste es einfach. Der Stoff war dort. Und Ron möglicherweise auch.
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