“Das klingt ja sehr schräg”, fand Toby.
“Oh, es gibt viele solcher Menschen. Auch ich liebe die Kunst”, sagte Nora. Dann lachte sie. “Nur habe ich leider kein Geld, sie zu fördern.”
“Hier steht nirgendwo Colemans Geburtsdatum. Wie alt er wohl war?”, überlegte Cassandra.
“Neunzehnhundertzweiunddreißig?” Nora überschlug ein paar Zahlen in Gedanken. “Wenn er fünfzig Jahre lang im Rathaus gearbeitet hat, dann schätze ich, dass er 1932 an die siebzig gewesen sein muss. Wenn nicht älter.”
“Und dann plant er noch den Bau eines Museums?”, zweifelte Toby.
“Nicht nur das. Er reiste auch noch fleißig in Europa herum und suchte nach neuen Künstlern und Projekten, die er fördern konnte. Von einem bestimmten Künstler war er ganz besonders angetan. Leider wird sein Name nicht erwähnt.”
Tja, Comtessa. Wie schade, oder? Jetzt hast du die Frage, aber dafür keine Antwort.
Cassandra versteifte sich.
Kann es sein...?
Sie schob den Gedanken schnell beiseite. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, sich dem Schock der Erkenntnis hinzugeben.
Recherchiere lieber weiter.
“Was ist aus dem geplanten Museum geworden?”, fragte Nora. Sie hätte es zwar selbst nachlesen können, aber Cassandra saß dichter am Bildschirm.
“Nichts. Der Bürgermeister hat den Bau abgelehnt. Die meisten großen Firmen waren pleitegegangen und die Stadt verarmte. Ein kostspieliges Museum muss das letzte gewesen sein, das die damals sehen wollten. Außerdem war der Bau des Gebäudes eine Sache, aber wer sollte das Museum mit Kunstschätzen füllen?”
“Hatte Coleman keine Privatsammlung?”
“Dazu steht hier nichts.”
“Wie ging es weiter?”, fragte Nora. “Was ist aus Coleman geworden?”
“Das war´s. Mehr steht hier nicht.” Cassandra suchte in den darauffolgenden Ausgaben, fand aber keine Artikel mehr zu Coleman oder seinen Projekten. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als die Suche zu beenden.
“Leute, ich weiß nicht wie´s euch geht, aber ich sterbe vor Hunger”, sagte Toby.
Nora warf einen Blick auf ihre winzige Armbanduhr. “Drei Uhr”, stellte sie fest. Und dann: “Mögt ihr Käsebrote?”
8
Wie sich herausstellte, war der kleine Nachttisch neben Noras Nachtlager oben in ihrer Titanenbibliothek in Wahrheit ein kleiner Kühlschrank. Sie hob das braune Deckchen und öffnete die kleine Tür. Er war randvoll gefüllt mit Käsebroten in Zellophanpapier und Diät-Cola.
Zu dritt fläzten sie sich auf Noras Bett und aßen die Käsebrote. Toby, der zwischen den beiden Mädchen saß, hätte nicht glücklicher sein können.
“Wir krümeln dir das ganze Bett voll”, sagte er, aber Nora winkte ab.
“Krümelt so viel ihr wollt.”
Während sie aßen und dabei schwatzten, vertraute Nora ihnen an, dass sie, abgesehen von ihren Eltern und ihren beiden Kolleginnen Misses Thorne und Yuill, die einzigen Menschen waren, die von ihrem Bibliotheksprojekt wussten. Darum mussten sie in heiligem Ernst schwören, niemandem etwas darüber zu erzählen.
Nora hätte sich keine Sorgen um ihr Geheimnis machen müssen, denn allein Cassandras Mitwissen war bereits Versprechen genug. Ohne es preiszugeben, machte Cassandra sich bereits Gedanken darüber, wie sie Nora zu noch mehr Büchern verhelfen konnte, um diese Bibliothek zu einem wahren Behemoth zu machen. Nicht nur was die Größe anbetraf, sondern auch die Menge an Wissen und der darin enthaltenen Wunder. Eine verschwörerischere Persönlichkeit als sie, hätte Nora nicht finden können.
Zu dritt würden sie diese Bibliothek zu einem höherdimensionalen Bulk-Raum gestalten, bestehend aus Schichten unzähliger Branwelten voller Erzählungen und Abenteuer. Und in diesem Gedanken keimte ein kreativer Schöpfungsprozess heran, der in der Zukunft bereits Früchte trug. Kein metaphysischer Humbug, sondern ein Prozess, der tagtäglich vonstattenging, im Zuge einer jeden Vision eines jeden Bauplaners, Architekten, Künstlers und Wissenschaftlers.
Dass diese Tatsache Cassandra in den Augen eines bestimmten Wesens überaus interessant machte, wusste sie nicht. Was nicht bedeutete, dass ihr Unterbewusstsein keine vage Vermutung hegte...
Die Liebe zur Kunst und die Fähigkeit zur Transzendenz...
Cassandra klinkte sich aus. Monokonspirative Gedanken unterspülten ihren Kontakt zur Realität. Sie ließ sich nichts anmerken, aber ihr Verstand war nur noch mit diesen neuen Gedanken beschäftigt.
Liebe und Transzendenz... Wieso kam ihr das gerade jetzt in den Sinn? Was hatte ihr Unterbewusstsein da ausgegraben?
Sind wir wieder am Grübeln, Comtessa? Bohren wir wieder nach Angst und Schrecken?
Sei still! Hilf mir lieber.
Schön. Dann denk mal nach. Was sagte Nora vorhin am Computer?
Sie liebt die Kunst.
Genau.
Sie ist die Liebe zur Kunst?
Nur weiter.
Was bin dann ich? Die Transzendenz?
Bingo. Du mit deinen jenseitigen Anfällen. Was hast du gefühlt, als du diese alten Regale berührt hast?
Ich weiß es nicht. Ich sah Dinge...
So wie du immer Dinge siehst, wenn du mal wieder auf einem deiner Psychotrips bist.
Visionen. Es sind einfach nur Visionen. Viele Menschen haben das.
Ja, und viele Menschen sind verrückt.
Bin ich verrückt?
...
Bin ich verrückt?
...
Vielleicht ist das nicht wichtig. Liebe und Transzendenz. Die Bedeutung dieser beiden Konzepte ist im Moment wichtiger. Aber etwas fehlt noch, oder?
Ja, das dritte. Es sind doch immer drei. Es ist beinahe schon langweilig.
Toby fehlt. Das ist es. Aber wofür steht er?
Sag du es mir, Comtessa. Woran hast du als erstes gedacht, als du ihm begegnet bist.
Er wirkte harmlos.
Harmlos ist nicht das richtige Wort. Er ist nicht harmlos. Er steht auf dich.
Man könnte denken, dass er naiv ist. Er hat so eine Art. Mit seinen Lokomotiven und den bescheidenen Wünschen.
Es wird wärmer. Aber naiv ist er auch nicht.
Nein, er ist etwas anderes. Aber was?
Es wird oft mit Naivität und Bescheidenheit verwechselt. Denk nach. Es ist eines der verlorenen Gefühle.
Was soll das denn jetzt heißen?
Hey, ich kann dir nur erzählen, was du ohnehin schon weißt, also denk nach.
Verlorene Gefühle, verlorene Gefühle. Was für ein Quatsch. Er ist einfach zufrieden mit sich und seiner Umwelt.
Und was ist er nicht?
Er ist nicht arrogant.
Und was noch?
Er ist nicht hochmütig.
Und was ist das Gegenteil davon?
Demut!
Na endlich, Comtessa.
Toby steht für die Demut? Aber was bedeutet das?
Liebe führt zu Demut. Demut führt zu Transzendenz. Transzendenz führt zu...
...zu was? Was bedeutet das alles? Was hat das mit unseren Erlebnissen zu tun? Mit diesen Erscheinungen?
Vielleicht nichts, Comtessa. Vielleicht bist du wirklich nur verrückt.
Jemand sprach mit ihr, aber sie verstand die Worte nicht.
Eines der verlorenen Gefühle. Wenn Demut eines davon ist, was sind die anderen?
Sie wollte dieses Rätsel lösen, aber ihre Konzentration ließ nach.
“Erde an Cassandra! Hallo?” Toby schnippte ihr mit den Fingern vor dem Gesicht herum, wie ein Hypnotiseur, der sein Opfer nicht mehr wachkriegt.
Cassandra schüttelte den Kopf. Diese seltsamen Überlegungen waren eine Offenbarung gewesen, aber die Erkenntnis zerfaserte und verlor ihre Struktur.
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