Auf der anderen Straßenseite fuhr ein blauer PKW vorbei. Sie stellte sich vor, wie er nach Brickrow fuhr, oder er fuhr auf der Landstraße weiter, vorbei an Orten wie Walkhampton, Dousland und Yelverton. Diesen Weg nahmen ihre Eltern, bogen auf der A386 nach Süden ab, passierten Roborough, dann Estover Mainstone, bis sie schließlich Plymouth erreichten. Aber diese Zeiten würden vorübergehen. Sie würden das Haus in Hillside verlassen, sobald Cassandra volljährig wurde. Sie würden nach Plymouth ziehen, und erwarten, das Cassandra sie besuchen kam.
Sie werden mir den Führerschein bezahlen und erwarten, dass ich jeden Morgen von Hillside zur Uni nach Plymouth fahre und abends wieder zurück. Sie werden mir einen Gebrauchtwagen kaufen, nicht damit ich sie mehr liebe, sondern damit ich mich leichter von ihnen löse.
Die ersten dicken Regentropfen fielen auf die Fensterscheiben, und Cassandra fragte sich ganz am Rande, wieso noch niemand diese Scheiben eingeworfen hatte.
Oh Nora, Toby, steht mir bei. Ich will nicht alleine sein.
Ich will nicht korrosiv sein.
Ich will nicht...
(Lara so schrecklich vermissen)
Ich will...
(tot sein)
...
Von der anderen Seite der Scheibe betrachtet wurden Regentropfen zu Tränen, die es niemals bis zu Cassandras Wangen schafften. Sie weinte nicht. Sie litt stumm. Tränen waren für Menschen, die Mitleid wollten, und das war etwas, dass Cassandra hasste, weil es sie so sehr abwertete. Sie brauchte kein Mitleid. Sie brauchte nichts und niemanden. Und vor allem brauchte sie niemanden, der sie nicht brauchte.
Wütend über sich und die Welt wandte Cassandra sich um, um zu sehen, was Nick so lange trieb. Es wunderte sie, dass er kein Wort sagte.
Er sagte kein Wort, weil er nicht da war.
Cassandras Wut verpuffte.
“Nick?”, fragte sie. “Wo steckst du?”
Wie konnte er verschwinden, ohne dass sie das Quietschen der morschen Treppe gehört hatte? War sie dermaßen tief in Gedanken gewesen?
Der Dachboden war schattendurchzogen, aber das Licht reichte aus, ihr zu zeigen, dass sie allein war. In den dunklen Nischen versteckte sich nichts Größeres als eine Maus. Trotzdem rief sie noch einmal nach Nick.
Er musste nach unten gegangen sein, hier war er definitiv nicht. Aber wieso hat er nichts gesagt? War er von diesem verdammten Gras so besessen, dass er sie einfach hier oben allein ließ? Möglich. Sie traute es ihm zu.
Aber sie glaubte es nicht.
Das Haus hatte ihn geholt. Das Haus hatte ihn. Cassandra wusste es.
Lieber Gott, lass ihm nichts zugestoßen sein, bitte! Lass ihn nicht das Opfer meiner Neugier sein!
Dieses verfluchte Haus!
Sie lief den schrägen Boden hinab zur Falltür und sah hinunter.
Es war unheimlich. Durch das Loch im Boden sah sie die schmale Treppe und einen kleinen Teil des Flurs; viel zu wenig, um jemanden ausmachen zu können. Eine ganze Horde Zombies könnte im Flur stehen, ohne dass sie es bemerkte. Sie zögerte kurz, lief dann aber die Treppe so schnell hinunter, dass die zwei Windungen bis zum Boden sie schwindelig machten.
Unten angekommen versteinerte sie förmlich.
Die Wände bewegten sich.
Der Flur hatte sich verändert. Nicht in der Form, sondern in der Farbe. Die Tapete bewegte sich, oder vielmehr das Muster auf der Tapete.
Cassandra wusste, dass Nick hier irgendwo war, und dass jede vertane Sekunde ihn in Gefahr brachte, und nicht sie, trotzdem opferte sie wertvolle Zeit, als sie an die Wand herantrat und das Muster der Tapete betrachtete. Vorhin war sie braun gewesen, und das war sie auch jetzt noch, aber die filigranen goldenen Ziselierungen, die das orientalische Muster bildeten, waren nicht mehr golden, sondern schillerten in den Farben des Regenbogens. Die dünnen, gekröselten Linien wechselten millimeterweise die Farbe, und dieser Umstand ließ sie wirken, als würden sie über die Tapete kriechen.
Fast wie Kupferdrähte. Wie Schaltkreise.
Cassandra traute sich nicht, die Tapete zu berühren, obwohl sie vor Neugier beinahe platzte. Sie befürchtete, dass diese “Drähte” herausschießen könnten. Sie würden herausschießen und sie einwickeln. Sie hatte so etwas schon einmal gesehen, in einem Film, glaubte sie, aber sie wusste nicht mehr in welchem. Ein ekelhaftes und dennoch erregendes Gefühl, das einen deutlich sexuellen Beigeschmack hatte, stieg in ihr hoch, als sie sich vorstellte, wie diese schimmernden Drähte sie so üppig umflochten, dass ihr Körper darin verschwand. Wie sie sie in die Wand hineinzogen...
Sie presste die flache Hand gegen ihren Magen und trat von der Wand weg. Eine Angst, die sie vollkommen vergessen glaubte, kroch in ihren Eingeweiden empor. Die Angst vor VERGEWALTIGUNG. Die Angst, die man ihr als Kind eingepflanzt hatte, und die schlimmer war als die Angst vor jeder anderen körperlichen Gewalt.
Das Schaltkreismuster veränderte sich vor ihren Augen. Große Teile der feinen Linien fielen aus und nahmen ihre ursprüngliche goldene Farbe an. Was blieb, war eine handbreite Fläche schimmernder Drähte, die sich wie ein Orientierungsstreifen an der Wand entlang zog. Cassandras Augen folgten dem Streifen. Er führte rechts von ihr über das Holz der Badezimmertür zur Treppe ins Erdgeschoß. Er zeigte ihr den Weg zu Nick.
Es geht los. Die Spielchen sind vorbei.
Angst war jetzt das einzige, was Cassandras Denken beherrschte. Die Abenteuerlust und die krampfhafte Suche nach Mysterien fielen von ihr ab wie eine alte Haut. Was blieb war rohe, nackte Angst um einen Menschen, den sie persönlich in Lebensgefahr gebracht hatte.
Ich hätte ihn nicht hierher führen sollen. Was habe ich mir gedacht? Wieso denke ich immer nur an mich?
Ihre Füße trugen sie zum Rand der breiten Treppe. Sie schaute über das Geländer, konnte aber nichts sehen. Unten war es dunkel.
Was wenn ich von hier verschwinde? Ich könnte durch das Fenster steigen und die Polizei holen...
Der Gedanke, so feige er auch war, schien doch richtig. Bläuten einem die Leute das nicht ständig ein? Sei kein Held, hol die Polizei. Wenn es Ärger gibt, hol Hilfe.
Nur sprachen gleich mehrere Gewissheiten gegen dieses Vorhaben. Cassandra wusste, dass das Haus sie nicht gehenlassen würde. Es spielte mit ihr. Das war sonnenklar, denn das Haus hätte sie beide schnappen können, statt dieses Versteckspiel mit Nick aufzuführen. Wenn sie jetzt versuchte zu fliehen, würde das Haus Nick wahrscheinlich töten und ihn dann genau wie Ron einfach verschwinden lassen.
...oh mein Gott...
Vermutlich würde sie das Fenster, durch das sie gestiegen waren, geschlossen vorfinden, und zwar so fest, dass kein Brecheisen es öffnen konnte. Und selbst wenn sie es hinausschaffte, was sollte sie der Polizei erzählen? Dass Nick die Treppe runtergefallen war? Dass er sich verlaufen hatte? Was würde die Polizei finden?
Auf einer unterbewussten Ebene, verstand sie den bösen Humor des Hauses. Sie konnte sich gut vorstellen, wie das Haus Nicks Körper auf eine besonders interessante Weise ausstellte, damit es auf keinen Fall so aussah, als hätte er einen Unfall gehabt. Egal was sie der Polizei erzählte, das Haus würde dafür sorgen, dass der Tathergang ihrer Geschichte widersprach. Wäre das nicht ein köstlicher Witz? Wenn der Mann aus Exeter ihr plötzlich komische Fragen stellen würde? Nicht nur über Nick, nein, auch über Ron. Wie gut kanntet ihr beide euch eigentlich...?
Cassandra stieg die Treppe hinab. Die Stufen waren verzogen, aber sie quietschten nicht. Unten sah sie, was sie schon erwartet hatte. Die Fenster des Erdgeschosses waren nicht geborsten. Die nasse Erde blockierte die Sicht nach draußen bis auf einige Zentimeter am oberen Rand, wo schmale Lichtstreifen vom schrägen Himmel hereinfielen. Ein Streifen Gras trennte Himmel und Erde.
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