Hinten an der Wand standen noch mehr komische Gegenstände. Eines davon konnte sie als eine Art Bottich identifizieren. Möglicherweise hatten die Menschen darin Kleidung gefärbt. An dem Bottich lehnte ein riesiger Schöpflöffel.
Oder die Tabakpfeife eines Riesen. Cassandra ging hinüber, um es sich anzusehen. Das Ding sah aus wie ein Eimer, der an einem sehr langen Stab befestigt war. Ja, ganz eindeutig die Pfeife eines Riesen. Langsam ergibt alles einen Sinn. Dort hinten hat er seine Zahnspange verloren und hier die Pfeife. Mal sehen, was wir noch finden.
Die Halle war groß genug, dass ein Kind sie den ganzen Tag erforschen konnte, und Cassandra überblickte gerademal einen Bruchteil davon. Um zur Mitte der Halle zu gelangen, musste sie einen zeitlupenartigen Slalom vollführen, immer darauf bedacht, nicht zu stolpern oder sich die Kleidung aufzureißen. Sie erreichte eine Stelle genau zwischen den sechs weit auseinanderstehenden Säulen, wo sie stehenblieb und einen Blick in die Runde warf, um zu entscheiden, welche Ecke des Raumes am vielversprechendsten aussah.
Mit ihren elf Jahren war Cassandra bereits eine forsche junge Dame. Sie war intelligent, viel intelligenter als ihre Mitschüler, und bis zu einem gewissen Grad tapfer. Für ein Kind war sie ganz schön hart im Nehmen, und noch härter im Austeilen, aber all das war nicht wichtig. Was jetzt zählte, war, dass sie genug Disziplin aufbrachte, nicht aufzuschreien, als sie die drei schwarzen Menschen am anderen Ende der Halle sah.
Sie erstarrte mitten in der Bewegung, und ihr Atem stoppte. Der brutale Schreck traf sie wie ein Hammerschlag auf das Brustbein.
Nicht bewegen!
Eine Sekunde später hatte sie das Gefühl als würde sie sich eine Blockbatterie an die Zunge halten, nur dass sie dieses säureartige Kribbeln am ganzen Körper spürte. Es war fast, als würde man nackt in eiskalte Brause getaucht werden.
Cassandras Gedanken rasten, aber der einzige sinnvolle Gedanke, der ihr in den Sinn kam, bestand darin, sich auf keinen Fall zu ducken. Falls diese drei Personen sie noch nicht gesehen hatten, könnte jede Bewegung ihre Aufmerksamkeit wecken. Die Halle war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, und diese Kerle nahmen Cassandra vielleicht nur als ein weiteres herumstehendes Gerät wahr.
Das galt leider andersherum genauso. Cassandra sah nicht mehr als drei schwarze Silhouetten im grauen Dämmerlicht. Sie konnte nicht erkennen, was diese Leute da trieben. Sie bewegten sich nicht und sie sprachen auch nicht miteinander. Sie beobachteten sie nur.
Lieber Gott, lass das keine Vergewaltiger sein!
Obwohl Brickrow nur eine kleine Stadt war und Kapitalverbrechen so selten waren wie glutheiße Sommer, so wurden doch in Brickrows Schulen immer wieder Sonderstunden geführt, in denen die jüngsten Schüler gelehrt wurden, nicht mit Fremden mitzugehen. Selbst im verschlafenen Brickrow waren die modernen Zeiten angebrochen, und Cassandra hatte schon zwei dieser Sonderstunden mitgemacht, in denen sie eifrig gefragt hatte, was denn diese bösen Menschen mit einem Kind machten, wenn sie es einmal in Händen hatten, doch die Antworten darauf waren für sie mehr als unbefriedigend gewesen. Sie vermutete, dass es um eine Sex-Sache ging, aber sowohl die Lehrer, als auch Cody Barnes, der diese Sonderstunden leitete, hatten sich vor einer konkreten Antwort gedrückt. Die Erwachsenen gaben nicht mehr preis als einige ominöse Andeutungen.
Daraufhin war Cassandra zu ihrem Vater gegangen und hatte ihn gefragt. Da Polizeichef Barnes ausdrücklich vor Männern gewarnt hatte, erschien es ihr nur logisch, auch einen Mann danach zu fragen.
Paul Moon hatte nach der Arbeit ferngesehen, mit seinem mürrischen Scheiß-Nachrichten-Gesicht, das er eigentlich immer aufsetzte, egal ob die Nachrichten nun gut oder schlecht waren, als Cassandra ins Wohnzimmer spazierte. Ihr Vater saß auf der Couch, nach vorne gelehnt, als würde er mit dem Fernseher Blinzel-nicht spielen. Cassandra konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater jemals auf der Couch lag . Er saß immer nur darauf, die Ellenbogen auf den Knien, die buschigen schwarzen Augenbrauen zusammengezogen.
Sie stellte sich neben ihn und wartete. Sie sprach ihn nie direkt an, wenn sie was von ihm wollte, sondern wartete einfach, dass er sie zur Kenntnis nahm. Er schaute sie kurz an und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Aus der Gewohnheit heraus wusste sie, dass er zuerst die Nachrichten zu Ende schauen würde, bevor er sich ihr widmete. So war ihr Vater halt.
Die Nachrichten endeten, und Paul Moon knipste den Fernseher mit der Fernbedienung aus. Dann klopfte er neben sich auf die Couch. Cassandra ließ sich auf das Sitzpolster fallen, aber Paul rutschte ein Stück von ihr weg, um sie besser anschauen zu können. Viel näher kam er ihr nie.
“Was gibt es?”, fragte er.
Der jungen Cassandra war es unbehaglich zu fragen, darum druckste sie ein wenig herum. “Heute in der Schule... Chief Barnes war da. Er hat uns erzählt, dass wir nicht mit Fremden mitgehen sollen.”
Paul Moon zeigte keine deutbare Reaktion. Er fragte einfach: “Und? Wirst du dich daran halten?”
“Ja, Papa, aber...”
Paul hob eine Augenbraue. “Was ist los? Willst du eine Bestätigung von mir, dass es gefährlich ist, mit Fremden mitzugehen? Benutz deinen Kopf, Mädchen.”
“Ich weiß, dass es gefährlich ist. Aber ich würde gerne wissen, wieso.” Das letzte Wort zog sie in die Länge. ”Was machen diese Männer denn mit Kindern?”
Jetzt zeigte sich eine Regung in seinem Gesicht. Er war eindeutig überrascht von Cassandras Frage.
“Hat man dir das in der Schule nicht gesagt?”
“Nein, wenn ich frage, reden die immer um den heißen Brei rum. Misses Whitfield sagte, ich müsse das nicht im Detail wissen. Ich wäre noch zu jung dafür.”
Paul schnaubte. Sein Scheiß-Nachrichten-Stirnrunzeln erschien wieder. “Verdammte Idioten, um seine Jungfräulichkeit zu bewahren ist man nie zu jung, hörst du? Mir egal, ob deren Kinder missbraucht werden, aber dich fasst niemand an.”
Cassandra war nicht sicher, ob sie verstanden hatte. Sie wusste nicht, wie Jungfräulichkeit genau definiert war. Es hatte mit der Unantastbarkeit von würdevollen Herrscherinnen zu tun, glaubte sie. Darum fragte sie Paul danach.
Paul seufzte. Er schaute zur Treppe und überlegte, ob er Marie rufen sollte, aber das leise Röhren der Wasserleitung sagte ihm, dass seine Frau unter der Dusche stand. Zu dieser Zeit duschte sie noch oben. Cassandra brauchte noch keine Privatsphäre.
“Na gut, hör zu”, sagte er. “Ich werde es dir erklären.”
Cassandra nickte...
...und während sie in der schummrigen Halle stand und nicht wagte zu atmen, dachte sie an all die schrecklichen Dinge, die ihr Vater ihr erzählt hatte. Er hatte sie umfassend aufgeklärt, und bei Gott, er hatte ihr auch erklärt, was passieren würde, wenn sie mehr als nur einem Triebtäter in die Hände fiel.
So wie jetzt , dachte sie. Ich muss hier weg!
Aber etwas stimmte nicht. Diese drei schwarzen Silhouetten hinten in der Halle bewegten sich nicht. Sie machten nicht die winzigste Bewegung, fast so als wären sie Statuen... oh Mist .
Konnte es sein, dass das gar keine Menschen waren? Sie strengte die Augen an, versuchte, Details zu erkennen. Alle drei Gestalten waren gleich groß. Und gleich geformt. Wie Scherenschnittfiguren. Und langsam dämmerte ihr, dass sie sich umsonst erschreckt hatte. Das waren bestimmt keine Menschen, sondern irgendwelche Geräte, die nur aussahen wie Menschen. Sie beruhigte sich ein wenig, aber trotzdem klopfte ihr Herz heftig weiter, als sie einen Schritt vorwärts tat.
Niemand reagierte darauf.
Sie trat noch einen Schritt vor und noch einen, und mit jedem Meter, den sie zurücklegte, wurde sie selbstsicherer. Und dann hörte sie doch etwas. Der Schreck ließ sie sofort erstarren.
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