Das vielleicht nicht, Cass, altes Haus. Aber es würde glänzen. Es wäre glitschig und würde glänzen.
Das hier glänzte nicht.
Es roch nicht.
Es war nicht echt.
Verdammt, wieder war sie einer Täuschung zum Opfer gefallen, auch wenn das in Cassandras Augen die Lage nicht wirklich entspannte. Wer auch immer dieser Witzbold war, er hatte der Puppe ein Gehirn aus Plastik transplantiert. Es war eines dieser Gehirne aus dem Biologieunterricht. Es war grau und bestand aus mehreren Teilen, die auseinanderfielen, wenn man nicht aufpasste. Sie hatte selbst schon eines in Händen gehalten und konnte nur das Großhirn und das Kleinhirn voneinander unterscheiden. Die restlichen Teile waren nur für Gehirnchirurgen interessant. Und für Psychopathen.
Dieser Psychopath hier hatte das Plastikgehirn scheinbar zusammengeklebt und dann mit einer langen und dünnen Nadel auf die Puppe gepinnt. Diese Nadel war so lang, dass Cassandra sich wunderte, was man damit eigentlich nähen sollte. Kleider für Riesen vielleicht? Und woher hatte er die Kraft gehabt, die Nadel durch das feste Plastik zu stoßen?
Cassandra schüttelte sich. Es war Zeit zu verschwinden. Sie würde sich nur kurz die dritte Puppe ansehen und dann gehen. Nach den vielen unnötigen Schrecksekunden, war sie abgehärtet genug, sich auf den Anblick der nächsten Puppe einzustellen...
... und wurde enttäuscht.
Die rechte Puppe war die fantasieloseste. Der Witzbold/Psychopath hatte ihr einfach nur den Filzkopf verbrannt. Das war alles. Keine Nadeln, kein mitgeliefertes Zubehör. Trotz der durchgemachten Angst, bedauerte sie diesen Umstand.
Aber dann sah sie es doch. Und im Grunde war das, was sie sah, noch unheimlicher als die beiden ersten Puppen.
Sie musste ganz dicht heran, um es richtig zu sehen. Sie war zu klein, als dass sie an den Kopf der Puppe herangereicht hätte, aber das ätherische Dämmerlicht vom Fenster reichte aus, um dieses eine Phänomen zu erkennen. Es dauerte einige Sekunden, bis Cassandra es vollständig begriff.
Nur die obere Hälfte des Puppenkopfes war verbrannt, von der Stelle aus aufwärts, wo die Oberlippe und die Nasenlöcher eines Menschen gewesen wären. Der Mund des Menschen wäre intakt geblieben. Die Trennlinie zwischen verbranntem und unverbranntem Material war absolut gerade, wie mit dem Lineal gezogen. Der untere Teil war noch nicht einmal rußgeschwärzt.
Wie schafft man denn so was?
Cassandra, die selbst schon einige Male gezündelt hatte, wusste wie schwer es war, ein kontrolliertes Feuer zu entfachen. Und das hier war schon lächerlich. Selbst wenn der Kerl den unteren Teil des Puppengesichts abgedeckt hätte, wären doch trotzdem Brandspuren zu erkennen gewesen. Da war sie sich ganz sicher. Feuer brannte doch niemals an einer geraden Linie entlang.
Auf welche Weise dieser Kerl das auch angestellt hatte, eine Frage beschäftigte Cassandra mehr als alle anderen: Wozu hatte dieser Kerl das gemacht? Wozu diese ganze Mühe? Und wieso stellte er diese Puppen gerade hier aus, wo kein Mensch mehr verkehrte?
Oh verdammt...
Was, wenn der Kerl hier lebt?
Oh verdammt...
Ich bin in das Versteck eines Psychopathen eingedrungen.
Diese Puppen...
Das sind Studien für seine nächsten Opfer!
Das war´s. Cassandra hatte genug. Sie wollte rennen, raus aus dieser unheimlichen Halle, hinaus ins Licht, wohin sich Psychopathen nicht trauten.
Sie kam nur mühsam voran. Wenn sie jetzt loslief, würde sie über einen scharfkantigen Gegenstand stolpern und sich alles Mögliche brechen. Obwohl der Fluchtdrang ihren Verstand auszuschalten drohte, zwang sich Cassandra trotzdem zu diesem beinahe lustig wirkenden Slalom zwischen öligen Maschinen und alten Ziegelsteinen hindurch. Mehrmals musste sie übertrieben mit der Hüfte schwingen, um Werkbänken und schräg liegenden Metallteilen auszuweichen. Ihr Atem schmeckte, als hätte sie an diesem schmutzigen Metall geleckt, ihr Herz pumpte und die Muskeln in ihrem Rücken verkrampften sich in Erwartung der zupackenden Hand des Irren.
Sie brauchte dreißig Sekunden, um die große Halle zu durchqueren, und fast hätte sie es auch geschafft. Sie packte die Türklinke, die in die Freiheit führen würde, und erkannte in selben Moment, das die Tür viel zu leicht aufging. Es war eine schwere Metalltür, und Cassandra hatte beim Eintreten Mühe gehabt, sie aufzudrücken. Jetzt beim Hinausgehen zog sie die Tür so mühelos auf, als hätte sie die Kraft eines Erwachsenen.
Oder so als würde jemand von der anderen Seite schieben.
Cassandra quiekte und wirbelte herum, um zurück in die Halle zu laufen. Sie hatte die schwarze Gestalt, die hinter ihr eintrat, nur kurz wahrgenommen und in dem kurzen Moment entschieden, dass sie lieber blind durch einen Raum voller Altmetall rennen würde, als sich von diesem Verrückten in eine der Puppen verwandeln zu lassen. Sie setzte zum Sprint an und erlebte den Alptraum eines jeden Kindes: Sie wurde von einem Monster verfolgt und die verdammte Trägheit hinderte sie am Wegrennen. Die eine Sekunde, die sie brauchte, um Geschwindigkeit aufzunehmen, wurde ihr zum Verhängnis. Eine scharfe Klaue, die unmöglich die Hand eines Menschen sein konnte, krallte sich ihr ins Genick. Cassandra begann zu kreischen wie am Spieß. Sie war entdeckt worden, und ihre einzige Chance bestand jetzt noch darin, die Lehrer oder das Personal auf sich aufmerksam zu machen.
Die scharfen Finger in ihrem Genick packten noch fester zu und zerrten an ihr wie ein Wolf an seiner Beute. Dieser Irre war unglaublich stark. So sehr Cassandra auch strampelte und nach hinten austrat, der Griff wurde nur fester und die Fingernägel bohrten sich in ihre weiche Haut.
Schreien und Treten half nicht. Cassandra gab auf. Sie wurde geschüttelt, und am Rande ihrer Wahrnehmung merkte sie auch, dass der Irre auf sie einschrie. In seiner psychotischen Raserei lachte er wahrscheinlich über seine unerwartete Beute.
“Cassandra Moon! Hör sofort auf zu schreien! Cassandra Moon!”
Die Stimme kam Cassandra bekannt vor. Komisch, dass im Fernsehen die Psychopathen nie weiblich waren, so wie dieser hier.
“Cassandra Moon! Ich leg dich übers Knie, wenn du nicht sofort aufhörst zu schreien!”
Das war ein Argument, und Cassandra schloss den Mund. Das infernalische Kreischen, von dem sie annahm, dass es bei genügender Lautstärke, ein Trommelfell zum Platzen bringen konnte, erstarb.
Flackernd sprangen die Neonröhren an. Als die letzte vollständig erwachte und die große Halle restlos erleuchtet war, wurde Cassandra brutal herumgewirbelt. Misses Whitfields Augen loderten vor Wut. Ihr altblondes Haar stand ihr vom Kopf ab.
“Beim Heiland, du kannst dich auf was gefasst machen.” Sie schrie nicht mehr, aber leise sprach sie auch nicht. “Wer hat dir erlaubt, dich von der Gruppe zu entfernen?”
Cassandra schwieg.
“Jetzt mach den Mund auf! Was hast du hier zu suchen? Habe ich dir erlaubt hierherzukommen?”
Sie antwortete nicht. Sie antwortete nie auf solche Fragen. Aber Misses Whitfield ließ nicht locker. Sie war außer sich vor Wut und würde es an jemandem auslassen.
“Was ist los mit dir? Hast du vergessen wie man spricht?” Misses Whitfield schüttelte sie. Diese scharfen, orange lackierten Fingernägel kratzten ihr Genick auf. Sie würde blutige Kratzer abbekommen. Misses Whitfield hatte ausgesprochen kleine Hände, fast wie kleine Gartenkrallen. Cassandra zwang sich, nicht zu heulen. Ihr kleines Mädchengesicht versteinerte, nur ihr Kinn zitterte, aber das war in Ordnung. Das hatte sie unter Kontrolle.
“Du willst also nicht mit mir sprechen. Du hast wohl deine Zunge verschluckt.”
Keine Reaktion. Cassandra musste stoisch bleiben. Sie würde nicht heulen.
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