“Schön, wie du willst. Du kommst jetzt mit.” Misses Whitfield ließ endlich ihr Genick los und packte sie stattdessen am Arm. Rücksichtslos zog sie daran, als sie durch die Tür trat, so dass Cassandra herumgewirbelt wurde. Ihr Arm fühlte sich an, als wäre er kurz aus dem Gelenk gesprungen. Sie hätte wieder schreien können, aber etwas anderes lenkte sie davon ab. Kurz bevor sie durch die Tür gezogen wurde, hatte sie die Gelegenheit, einen Blick auf den hinteren Teil der Halle zu werfen. Dort war jetzt alles hell erleuchtet. Maschinen, Zementsäcke, große Drahtrollen. Nur die Puppen nicht. Denn die waren nicht mehr da. Cassandra runzelte die Stirn. Dann schloss sich vor ihr die einzige Tür zu diesem Stockwerk.
Cassandra blinzelte.
“Ist alles in Ordnung?”, fragte Toby.
“Ja. Ich habe mich nur an etwas erinnert.”
“Hat es mit unserer Sache zu tun?”
Sie überlegte. “Es würde mich wundern, wenn nicht.”
Sie betraten das Archiv.
4
In den letzten sechs Jahren seit Cassandras kleinem Horrorabenteuer im zweiten Stock des Archivs, hatte sich im Eingangsbereich kaum etwas verändert. Der Geruch verriet ihr das, bevor sie die große Eichentür ganz aufgezogen hatte. Nach einem Seitschritt in den dämmrigen Flur hinein, bestätigte sich ihr Verdacht, dass auch optisch kaum eine Veränderung vonstattengegangen war.
“Hallo?”, rief Toby, aber außer einem blechernen Echo, antwortete niemand.
Cassandra sperrte den letzten Spalt Sonnenlicht aus. Im Erdgeschoß wäre es stockdunkel gewesen, wenn nicht weiter vorne, wo zwei Flure sich kreuzten, gelbe Lichtbahnen den Schachbrettboden punktiert hätten. Staubflocken warteten im Licht.
“Hier ist es ganz schön unheimlich.”
Cassandra stieß ein knappes Lachen aus. “Wenn du wüsstest.”
“Hier ist ein Lichtschalter.”
“Nein, lass. Wir sehen genug.” Es widerstrebte ihr, das gesamte Erdgeschoß in Neonlicht zu tauchen. Die Fenster an den Enden des kreuzenden Flurs lieferten ausreichend Licht, um sich zu orientieren. Jetzt galt es, den richtigen Raum mit den historischen Dokumenten zu finden.
“Wonach suchen wir eigentlich?”
“Das wüsste ich selbst gern. Ich brauche Unterlagen über den Bau der Schule. Vielleicht den Namen des Architekten und Zeitungsausschnitte über die Einweihung. Solche Dinge.”
“Verstehe. Dann sollten wir vielleicht oben im Zeitungarchiv anfangen.”
“Dann los.”
Sie liefen bis zur Kreuzung und klopften zwischendurch an Bürotüren, auf der Suche nach einem Mitarbeiter, fanden aber niemanden. Sie suchten nach einem Lageplan, und waren genauso erfolglos.
“Touristenfreundlich sind die hier nicht gerade.”
“Wir sind keine Touristen, Toby.”
Sie gingen weiter Richtung Treppenhaus. “Ich will mich kurz im zweiten Stock umsehen”, sagte Cassandra.
“Was ist im zweiten Stock?”
“Ein Haufen Schrott und vielleicht noch mehr Rätsel.”
Toby hatte keinen Einwand, und sie gingen hinauf in den zweiten Stock, vorbei am Zeitungarchiv. Das Treppenhaus war dunkler als die Flure, aber die Stufen waren breit genug, um nicht zu stolpern. Erst in der großen Halle kam ein wenig Licht durch die verkrusteten Fenster. Cassandra griff nach dem Lichtschalter, ließ das Licht aber dann doch gelöscht. Vielleicht fanden sie mehr Rätsel im Dunkeln, als im Hellen.
Toby stieß ihr in den Rücken.
“Sorry”, hauchte er.
Cassandra machte ihm Platz, damit er sehen konnte.
Die Halle hatte sich nicht verändert. Das große Metallmaul, das sie inzwischen als einen Teil eines Holzhäckslers identifizieren konnte, lag noch an derselben Stelle rechts vom Eingang. Es grinste böse.
Der ganze andere Schrott war auch noch da. Ein ganzer Irrgarten aus Metallplatten, Netzen zum Halten von Putz, und alten Schreibtischen mit umgedrehten Stühlen obenauf. Allerdings konnte sie nicht sehen, ob die Puppen da waren. Sie musste näher heran.
“Lass uns lieber das Licht einschalten.”
“Gleich. Ich glaube, das, was ich suche, finde ich nur im Dunkeln.”
Toby verkniff sich eine Antwort. Die Dunkelheit erlaubte keinen Sarkasmus.
Cassandra übernahm die Führung. Trotz der langen Zeitspanne seit ihrem letzten Besuch, erinnerte sie sich wieder an den Weg durch den Irrgarten. Toby folgte ihr und stieß sich dabei mehrmals die Hüfte an Werkbänken und merkwürdig langen Schrauben, die in den Raum hineinragten. Um ehrlich zu sein, hatte er mehr Augen für Cassandra, als für die Hindernisse in seinem Weg. Sie war eine dunkle Schönheit in einem düsteren Raum, und Toby konnte nicht anders, als ständig ihre weißen Schultern anzustarren. Ihr Geruch war berauschend. Wie der beste Kaffee der Welt.
Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung vor einigen Stunden, fiel ihm auf, dass sie Schweißbänder an den Handgelenken trug. Im Dunkeln merkte er das nur deshalb, weil eine Lücke zwischen ihren Unterarmen und den Händen klaffte. Er fand, dass die Schweißbänder nicht zu ihrem Sommerkleid passten, aber er machte sich keine weiteren Gedanken darum. Er wollte lieber schauen, ob er im Dunkeln näher an sie herangehen konnte.
Der Wunsch wurde ihm auch prompt erfüllt, als Cassandra plötzlich stehenblieb.
“Sorry”, murmelte Toby ein weiteres Mal.
“Okay. Alles klar. Schau dir das an.” Sie klang beinahe eingeschüchtert, als sie mit schlaffem Arm ins Dunkel deutete.
Ihr Tonfall versprach ihm, gleich etwas Groteskes zu Gesicht zu bekommen, darum schob er sich vorbei, um zu sehen, worauf sie deutete.
Aufrecht an der hinteren Wand der Halle lehnte die abgerissene Heckflosse eines relativ kleinen Flugzeugs. Sie reichte Toby kaum bis zur Brust, und war an der oberen Kante stark abgerundet. Die Farbe des Lackes mochte einst grün gewesen sein, soweit man das im Dunkeln beurteilen konnte. Unverwechselbar jedoch war das schwarze Symbol darauf.
“Siehst du dasselbe wie ich?”, fragte Cassandra.
“Messerschmitt BF 109”, hauchte Toby zurück.
“Das war vor sechs Jahren nicht da.”
Toby ging näher heran und fuhr mit der Hand über den Lack. Kein Rost. Keine Kratzer.
“Als wäre es erst gestern abgeschossen worden.” Mehr als das Symbol auf der Heckflosse, verstörte ihn die Unversehrtheit dieses Reliktes. Jemand spielte mit ihnen, und das Spiel war langsam nicht mehr witzig.
“Lass uns gehen”, sagte Cassandra.
An der Tür zur Halle blieben sie noch einmal stehen. Cassandra betätigte den Lichtschalter, aber nichts geschah. Das Licht blieb aus.
5
Sie betraten den ersten Stock, an den sich Cassandra nur noch vage erinnerte, weil sie damals die aktive Teilnahme an der Exkursion verweigert hatte, nachdem Misses Whitfield sie im zweiten Stock aufgelesen hatte. Cassandra war damals schmollend hinterhergeschlurft und hatte sich Rachefantasien an Misses Whitfield hingegeben, ohne die Exkursionsführerin oder die Umgebung zur Kenntnis zu nehmen. Nur die Kratzer in ihrem Genick hatten sie beschäftigt.
Heute war es hier genauso dunkel wie im Erdgeschoß. Toby drückte auf den Lichtschalter, aber nichts tat sich. Scheinbar war der Strom im ganzen Haus ausgefallen.
Der Grundriss dieses Stockwerks unterschied sich von dem im Erdgeschoß und des zweiten Stocks. Hier hatte man Platz gemacht für spezielle Metallregale, in denen große Mappen gestapelt waren. Sie wirkten wie die Lamellen einer halb offenen Jalousie. In jeder Mappe lag eine aufgefaltete Ausgabe der Brickrow Beyond . Der Tageszeitung Brickrows.
“Hier war doch mal so ein Apparat, mit dem man sich die Zeitungen ansehen konnte”, sagte Toby
“Du meinst das Microfiche- Gerät.”
“Nein, nein, ich meine so einen Kasten, der aussieht wie ein Fernseher. Da konnte man Kopien der Zeitungen anschauen.”
“Ja, das Microfiche- Gerät”, sagte Cassandra geduldig.
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