“Danke”, murmelte sie.
Sie überließen den alten Mann seiner Apathie und den Dingen, die sich vor seinen grauen Augen abspielen mochten, und machten sich auf den Weg ins Archiv. Ron und seine Freunde waren inzwischen verschwunden und hatten nur die sengende Hitze zurückgelassen.
“Mann, ich hoffe, wir sehen den Film wieder”, sagte Toby. “Wenn die Bilder wirklich so gut sind, wie du sagst und der alte Kerl ihn verliert...”
“Wird er nicht. Jetzt komm.”
Schließlich erreichten sie, schwitzend und von der Hitze erschöpft, das große gelbe Gebäude, in dem der einzige Zeitungsverlag Brickrows seinen Sitz hatte. Wie schon gesagt, gehörte dieses Gebäude ursprünglich zu einem Fabrikkomplex zur Herstellung und Verarbeitung von Textilien, bevor Brickrows Textilindustrie den Bach hinunterging. Dem Gebäude gegenüber, auf der anderen Seite des großen Schotterplatzes, der früher der Rangierplatz der Fabrik war, stand ein ähnliches Gebäude und enthielt die Archive der Zeitung und der Stadt. An den gelben Wänden der beiden Gebäude knarzten schorfige Fensterläden.
Kies knirschte unter ihren Sohlen, als sie zur breiten Eichenholztür des Archivs gingen. Dort blieb Cassandra stehen und schaute hoch zum Wappen der Stadt, das über der Tür hing.
Von silber und grün gespalten, vorne eine rote Rose mit Stiel und Dornen, hinten eine goldene Schreibfeder, dachte Cassandra. Und dann: Danke, Mister Welling.
Sowohl sie, als auch Toby waren zuvor nur ein einziges Mal im Archivgebäude gewesen, in der fünften Klasse, während einer Exkursion in Geschichte. Mister Welling hatte die Exkursion geführt, und Misses Whitfield hatte sie begleitet. Cassandra erinnerte sich sehr deutlich daran, wie sie in einem der großen und nur schlecht erleuchteten Flure absichtlich falsch abgebogen war, um das Gebäude auf eigene Faust zu erkunden. Die lärmenden Schüler und die total überdrehte Angestellte des Archivs, die ihre Führerin gewesen war, hatten die spannungsgeladene Neugier der kleinen Cassandra zu sehr gestört, als dass sie ihr Abenteuer hätte richtig genießen können. Darum hatte sie kurzerhand beschlossen, sich von den Anderen abzusetzen und zu schauen, ob sie nicht vielleicht einige Gebäudeteile finden konnte, die von plärrenden Pauschaltouristen unberührt geblieben waren.
Und wirklich, kaum eine der dunkelblauen monolithischen Türen des Archivs war abgeschlossen gewesen, als die kleine Cassandra mit einem erhabenen Gefühl der Angst und der Vorfreude die Türklinke heruntergedrückt hatte. Die erste Tür war nach innen aufgeschwungen, und Cassandra hatte etwas entdeckt, das sie niemals hatte sehen wollen...
3
...ein langweiliges Büro. Dunkel und schattig, aber dennoch so gewöhnlich .
Cassandra, zu dieser Zeit noch elf Jahre alt, hatte eine weitere Tür ausprobiert und wieder nur einen langweiligen Raum voller Akten gefunden.
So ein Mist.
Mürrisch und enttäuscht hatte sie die Tür geschlossen und sich umgesehen. Diesem Abenteuer fehlte es an Reiz, wenn Lara nicht dabei war. Sie war heute morgen nicht zur Schule gekommen, und Cassandra vermutete, dass ihre beste Freundin krank im Bett lag. Niemals hätte sie die Schule geschwänzt, ohne Cassandra zuvor angestiftet zu haben, es ihr gleichzutun. Trotz dieses Umstandes ärgerte es Cassandra, ausgerechnet am Tage des Ausflugs von Lara alleingelassen worden zu sein. Um die Zeit bis zu ihrem Wiedersehen zu überbrücken, suchte Cassandra nach einem Abenteuer, das sie ablenken sollte.
Die Stimmen ihrer Mitschüler und der alten, aber hibbeligen Führerin waren sehr leise geworden und würden bald hinter einer Ecke verschwinden. Cassandras anfängliche Enttäuschung schwand mit jedem Dezibel ihres Lärms und machte einer neuen Vorfreude Platz. Was hatte diese schreckliche Frau vorhin gesagt? Das Archiv der Stadt und das der Zeitung nehmen jeweils ein Stockwerk ein. Das Erdgeschoß enthält unsere Büros und das Stadtarchiv, der erste Stock das Archiv der Zeitung.
Schön für euch , dachte Cassandra, aber was ist im zweiten und dritten Stock?
Zeit es herauszufinden, dachte sie mit einer Sturheit, die sie schon oft in Schwierigkeiten gebracht hatte. Hier musste doch ein Treppenhaus sein.
Nach einigen Schritten durch das hohle Zwielicht der Flure, erkannte Cassandra, dass einige Teile dieses Gebäudes nachträglich angebaut worden waren, um es von einem Fabrik- in ein Verwaltungsgebäude zu verwandeln. Viele der Räume, die sie inspizierte, wurden nur durch dünne provisorische Wände getrennt. Alte Hängelampen waren durch neue, in die Decke integrierte, ersetzt, und der ehemals kahle Boden war mit trittfestem Teppich ausgelegt worden. Aber wie Cassandra herausfand, beschränkten sich alle diese Neuerungen nur auf die beiden unteren Stockwerke.
Sie fand eine große Doppeltür aus Metall, die schwer zu öffnen war. Sie drückte mit der Schulter dagegen und schob sich durch den Spalt, bevor dieser sich hinter ihr schloss. Hinter der Tür fand sie ein beinahe lichtloses Treppenhaus, das sie irgendwie an den hohlen Zahn eines Drachen erinnerte, und lief nach oben, bis zu einer weiteren Doppeltür, die sie mit der Schulter aufstemmen musste, um in den zweiten Stock zu gelangen. Ihre Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen.
Cassandra stand in einer großen, dunklen Halle, die das gesamte zweite Stockwerk einnahm. Eine kellerartige Kälte dominierte die Halle, und Staub machte die Luft rau. Ein Erwachsener hätte sich von der Weite der Halle wohl kaum beeindrucken lassen, aber für die kleine Cassandra hatte dieser Raum die einschüchternde Wirkung eines Flugzeughangars. Jeder Hauch schien ein Echo hervorrufen zu können, darum atmete sie ganz leise.
Die Decke der Halle wurde von sechs eckigen Betonpfeilern getragen. Dazwischen regierte das blanke Chaos, wie es nur schlecht bezahlte Beamte verursachen konnten. Verteilt über die gesamte Fläche des Stockwerkes, lag eine unglaubliche Menge an alten Maschinen herum, teilweise so bizarr, dass Cassandra nicht zu raten vermochte, wozu sie einst gedient hatten. Das schummrige Licht, das durch die hohen Reihen schmutziger Fenster fiel, erlaubte ihr eine gewisse Orientierung, darum trat sie an eine der öligen Maschinen heran, um sie sich genauer anzusehen. Es war eine große und breite Maschine, breiter noch als ein Kleinwagen, und wirkte wie eine Mischung aus Bärenfalle und der rostigen Zahnspange eines Riesen. Cassandra strich langsam mit den Fingern über das dunkle Metall und fühlte Kälte unter der öligen Schicht Dreck.
Ist das eine Druckerpresse?, überlegte sie. Sie hatte noch nie eine Druckerpresse gesehen, aber dieses Ding erschien ihr zu unheimlich für ein solches Gerät. Es sah aus, als könnte es mit seinen rostigen Zähnen ein ganzes Auto fressen. Im Vergleich dazu war ein neugieriges Mädchen kaum einen Happs wert.
Vielleicht ist es eine Landmaschine? Ein Traktor könnte so etwas hinter sich herziehen.
Mit einem Schauer wohligen Gruselns wandte sich Cassandra ab, um zu sehen, was es hier noch zu entdecken gab. Sie musste aufpassen, nicht auf herumliegende Maurerkellen und Reste von Drahtgeflecht zu treten, als sie tiefer in den großen Raum drang. Sie dachte daran, nach einem Lichtschalter zu suchen, verwarf aber diesen Gedanken schnell. Grelles Licht hätte diesen Raum schlagartig entmystifiziert, und das wollte Cassandra auf keinen Fall. Sie wollte ein unheimliches Abenteuer.
So muss das Land der Chamäleons aussehen , dachte sie. Alles passt sich aneinander an. Diese großen Gipsplatten, die an den Säulen lehnen, sind die Schuppen der Chamäleons . Und diese schwarzen Geräte sind ihre Pupillen. Noch zucken sie nicht, aber wenn sie erst mal ihre Beute erspäht haben...
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