"Was denkst du?", fragte Cassandra. Sie stand neben ihm und schaute ihn an. Toby hatte nicht gemerkt, dass er stehengeblieben war.
"Als du oben auf dem Hügel standest und diese Sache passierte..."
"Ja?"
"Du hast nur die Landschaft gesehen. Sie war gemalt, aber ansonsten war nichts anders, oder? Da liefen keine Monster rum oder riesige weiße Würmer?"
"Nein", sagte sie.
"Du hast in deiner Vision Brickrow gesehen, während ich einen vollkommen anderen Ort gesehen habe. Eine unterirdische Bahnstation."
Cassandra ließ den Blick über die heiße Landschaft schweifen. “Und so was gibt es hier nicht.”
“Welchen Ort habe ich dann gesehen?”
Darauf wusste sie keine Antwort.
Sie diskutierten den ganzen Weg bis nach Brickrow, ohne zu befriedigenden Antworten zu gelangen. Ganz am Rande erkannten sie, dass sie mit ihrem jugendlichen Verstand versuchten, eine Gegebenheit zu verstehen, die sich ihrem Begriffsvermögen bei Weitem entzog. Und noch weiter am Rande ihres Verstandes, dort wo die intuitive Angst eines Menschen lauerte, erahnten sie, dass diese Gegebenheit weit bedrohlicher sein könnte, als es im Moment den Anschein hatte. Aber wie es Jugendliche nun mal zu tun pflegten, ignorierten sie das Gefühl der nahenden Katastrophe und konzentrierten sich ganz auf das knisternde Abenteuer, das vor ihnen lag. Dabei war Toby von Cassandras tiefgründiger Neugier nur zu leicht anzustecken, und man könnte sagen, dass er zu dem Zeitpunkt, als sie die ersten Häuser von Brickrow erreichten, Cassandra und ihrer Welt vollkommen verfallen war.
2
“Meine Güte”, sagte Toby, “da haben wir den heißesten Sommer des Jahrhunderts und diese Stadt ist so bedrückend und dunkel wie immer.” Er sprach von den dicht beieinander stehenden roten Häusern. Sie waren vier Stockwerke hoch, aus nacktem Ziegelstein, und raubten einem die Luft zum Atmen.
Zur Zeit der späten industriellen Revolution, Ende des neunzehnten Jahrhunderts und Anfang des zwanzigsten, als die ersten Fabriken gebaut wurden und die Zukunft in Gold gemeißelt schien, war Brickrow eine äußerst wohlhabende Stadt gewesen. Reiche Fabrikbesitzer und noch reichere Investoren hatten ihre massiven steinernen Villen wie Festungen aneinander gereiht, und Cassandra vermutete, dass es damals als chic galt, sein Anwesen im Stile einer backsteinernen Fabrik zu bauen. Sie konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, aus dem ein reicher Mensch in einer solchen Festung leben wollte. Den Stadtverordneten im Rathaus gefielen diese erhabenen Statussymbole und sie ließen noch massivere und kolossartigere Wohnhäuser bauen, die sie allesamt aus dem unerschöpflichen Steuerbudget der Stadt bezahlten. Die damaligen Zuwanderer, hauptsächlich Fabrikarbeiter und Neureiche aus ganz Europa, bezogen diese exquisiten Wohnungen und hoben die Einwohnerzahl Brickrows zeitweilig auf bis zu dreißigtausend Menschen. Das geschah während des Höhepunkts von Brickrows Konjunktur und hielt einige Jahre an, so dass die Stadt immer mehr Wohnungen bauen ließ, bis schließlich Ende der Zwanzigerjahre die große Arbeitslosigkeit Einzug hielt. In den darauffolgenden Jahren verließen beinahe zwanzigtausend Menschen die Stadt und hinterließen nichts als leere Wohnungen, zwischen denen Cassandra und Toby nun standen.
Sie verweilten nicht lange, da sich sowohl das Stadtarchiv, als auch das Zeitungarchiv am anderen Ende der Stadt befanden, und sie noch einen langen Weg vor sich hatten.
Nachdem sie die Außenbezirke hinter sich gelassen hatten, kreuzten sie den Rathausplatz, wo sich, außer einigen Rentnern und vielen Tauben kaum etwas rührte.
Zur Mittagszeit war der Rathausplatz der sonnigste Ort in der ganzen Stadt, und viele der alten Leute waren in die Schatten von Ladenmarkisen und Sonnenschirmen geflüchtet. Es waren kaum junge Leute da, bis auf eine Ausnahme. Weiter vorne, in der Mitte des Platzes, saßen drei Jungs um den Springbrunnen herum und stierten gelangweilt in die Gegend. Zwei von ihnen kannte Toby nur von zufälligen Begegnungen, weil beide auf die Eastern Comprehensive School gingen, aber derjenige in der Mitte war Ron Hauser. Er saß da, rauchte, und spuckte ab und zu auf den Boden zwischen seinen Füßen. Sein glattes schwarzes Haar klebte glänzend wie Motoröl an seiner Stirn und verdeckte einen Teil seiner Akne. Der sichtbare Teil seines Gesichtes glomm in fleischiger Intensität.
Cassandra ignorierte ihn vollkommen.
Toby warf einen Blick hinüber, nicht sicher, ob er ihn grüßen sollte (die anderen beiden Kerle sahen gemein aus), verstummte aber schon im Ansatz, als Ron den Kopf hob. Seine hellen, fast schon gelben Augen fanden Cassandra und fixierten sie. Es war keine Wut, die aus seinen Augen leuchtete, sondern etwas anderes. Etwas, das Toby nicht genau benennen konnte. Eine Art grimmiger Abneigung unter geraden Augenbrauen. Er konnte nicht anders, als Rons stierendem Blick zu folgen, um zu sehen, was er sah.
Cassandras vollkommene Ignoranz hatte etwas Majestätisches an sich. Es war dieses beinahe intime Ignorieren, das man niemals einem Fremden entgegenbringen konnte, sondern nur einem Menschen, dem man einst nahe gestanden hatte. Und diese Erkenntnis ließ in Tobys Brust die Eifersucht wie eine Splittergranate platzen. Er öffnete den Mund, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte, aber Cassandra packte ihn am Arm und zog ihn in den Schatten einer Markise, bevor er sich einen Satz zurechtlegen konnte.
Ron ließ den Blick nicht von ihnen beiden.
“Ich gebe den Film zur Entwicklung”, sagte Cassandra. “Willst du mitkommen oder dich mit ihm duellieren?”
Wenn er jetzt was sagte, machte er sich höchstwahrscheinlich zum Affen, darum schwieg er und presste die Eifersucht tief in sich hinein. Himmel, schließlich hatte er das Mädchen gerade erst kennengelernt. Er würde sich die Tour nicht gleich zu Beginn vermasseln, weil er unbedingt eine Szene machen musste. “Ich komme mit”, sagte er ohne Begeisterung.
Sie betraten die kühle Stille von Jorge Packards Gemischtwarenladen, der neben Nahrungsmitteln und Tabak auch einen Fotoservice anbot. Das Summen von Jorges Kühltruhen war ein willkommener Kontrast zum Summen der Hitze draußen.
An der sauberen Theke saß ein alter Mann, der schon lange in Rente gehörte. Er war gelb und faltig wie eine Packung vakuumverpackter Erdnüsse. Seinen Kopf zierte kein einziges noch so krummes Haar. Er lächelte nicht, sondern wartete geduldig auf die Kundschaft. Ein merkwürdiges, babyartiges Greinen kam aus seiner faltigen Kehle, aber das schien er nicht zu merken.
Cassandra stellte sich dicht an die Theke, so dass der alte Mann sie nur ab der Hüfte aufwärts sehen konnte, dann hob sie die Seite ihres Kleides so weit an, dass sie an die kleine schwarze Tasche mit dem Film herankam.
Tobys Augen gingen fast über vor Überraschung, ihren langen kreideweißen Schenkel zu sehen, und er blickte rasch zur Seite, nur um sofort wieder hinzuschauen. Aber sie ließ den Stoff wieder fallen. In der Hand hielt sie ein Plastikröhrchen, das sie Jorge entgegenhielt.
“Wie schnell kann ich die Fotos haben?”
“Hmmmmm”, machte Jorge, “heute Abend, wenn´s passt. Bin alleine hier.” Dabei starrte er unablässig ins Leere. Hätte er nicht sinnvolle Sätze gesprochen, Cassandra hätte ihn für senil gehalten.
“Wunderbar”, sagte sie.
“Ja, heute Abend. Kommt heute abend wieder.” Der alte Jorge starrte weiterhin ins Leere und machte keine Anstalten, den Film an sich zu nehmen. Cassandra schob den Film über die Theke und hoffte, dass Jorge ihn registrierte. Zwar kannte sie den alten Jorge so wie die meisten Bewohner Brickrows ihn flüchtig kannten, aber sie war sich keineswegs sicher, ob der Alte nicht schon erblindet war. Auch Toby schaute skeptisch, und Cassandra wollte den Film schon klammheimlich zurücknehmen, als der Alte doch noch reagierte und den Film mit zitternden Händen wegstellte.
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