Wir sind da! gab der Junge ihr zu verstehen.
„Ehrlich?“ Melia war sichtlich überrascht, doch Chalek nickte und deutete mit dem linken Arm in die entsprechende Richtung.
Melia richtete ihren Oberkörper wieder auf und streckte ihn durch. Dabei blickte sie nach vorn und war sogleich etwas entsetzt, denn vor ihnen erhob sich ein äußerst steiles, extrem zerklüftetes und augenscheinlich sehr gefährlich zu besteigendes Geröllfeld bis hinauf zum Rand des Hochplateaus in etwa sechzig Metern Höhe. Sie war sich zwar nicht sicher, was sie erwartet hatte, aber sicherlich nicht das. Und das Gefühl der Unsicherheit und des Zweifelns, das sich schlagartig in ihr breitmachte, gefiel ihr überhaupt nicht. Chalek erkannte dies und als sich ihre Augen trafen, sah Melia, dass sein Lächeln verschwand und er enttäuscht schien.
„Was ist los?“ fragte Kalipos, der sich mittlerweile erholt hatte.
„Wir sind da!“ erwiderte Melia und gab gleichzeitig Chalek zu verstehen: Das sieht gefährlich aus!
„Was soll das heißen, wir sind da?“ hob Nimas verärgert an.
Ja, sieht es! erwiderte Chalek. Aber ich habe einen Weg hinaufgefunden. Er ist schwer, aber nicht unmöglich!
„Ihr wollt mir doch jetzt nicht erzählen, dass wir diese...!“ Nimas Stimme war eiskalt und zornig. „...Wand erklimmen sollen?“
„Halt die Luft an, Mann!“ zischte Kalipos aber sofort und baute sich drohend neben ihm auf. „Und lass den Jungen erklären!“ Er schaute Melia an.
„Doch, wir müssen da rauf!“ erwiderte die junge Frau. „Aber...!“ fügte sie schnell hinzu. „...Chalek sagt, er hätte einen Weg gefunden, der passierbar ist!“
„Ja, für ihn vielleicht!“ rief Nimas. „Aber doch nicht für uns Erwachsene!“
„Ich sag es dir jetzt zum allerletzten Mal: Halt deine verdammte Klappe!“ Kalipos hatte Mühe, sich im Zaum zu halten. „Wir sind so weit gekommen, jetzt ziehen wir das auch durch. Hast du das ein für alle Mal verstanden?“
Nimas funkelte den Anführer einen Moment lang böse an, dann nickte er mit einem mürrischen Brummen. „Ach, leck mich!“ nuschelte er dabei leise.
Kalipos blickte ausdruckslos, aber mit bohrenden Augen zurück, dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort an den Jungen. „Kannst du uns da wirklich sicher raufbringen?“
Chalek nickte.
„Okay!“ Auch Kalipos nickte. „Dann tu es!“
*
Vilo behielt ihre Geschwindigkeit bei, während er in einen sanften Steigflug ging. Er rechnete damit, dass er Mühe haben würde, das Schiff bei diesen aufgewühlten Wassermassen ruhig zu halten, doch zu seiner Überraschung geschah nichts dergleichen. Offensichtlich musste sich der Sturm über ihnen gelegt haben. Bei einer Tiefe von zweihundert Metern erhöhte er den Steigungswinkel immer mehr und schließlich schoss das Boot mit noch immer weit über vierhundert Meilen in der Stunde durch die ruhige Wasseroberfläche in den überraschend wolkenarmen Himmel.
Mavis hatte sich in den letzten Momenten ziemlich in seinen Sitz gekrallt. Als die Kitaja aus dem Meer hinausschoss, betrug ihr Steigungswinkel beinahe sechzig Grad und er hatte das Gefühl, als würden sie direkt in den gleißenden Sonnenstern rasen, der nach langer Zeit mal wieder ungehindert am Himmel prangte. Teils fasziniert von seinem Anblick, erkannte er aber auch sehr schnell den milchigen Dunst, der am Himmel in allen erdenklichen Farben waberte und wie ein halbdurchsichtiger Schleier über dem galpagischen Ozean lag. Dabei überwog die Farbe Grün eindeutig und Mavis wusste sofort, dass es Zeugnisse der teuflischen Gifte waren, die ständig und unablässig aus den Wandlern ihrer Feinde in die Atmosphäre gepumpt wurden.
Währenddessen drosselte Vilo ihre Geschwindigkeit und sorgte dafür, dass das Schiff in einen Parallelflug in geringer Höhe zur Wasseroberfläche ging.
Als Mavis sich aber noch immer nicht rührte, blickte er zu ihm herüber und fragte. „Mavis?“
Sein Freund reagierte nicht sofort, dann aber nickte er. „Ja, alles klar. Ich mach schon!“ Er beugte sich nach vorn und gab einige Befehle in den Rechner ein.
Vilo schaute ihm einen Augenblick zu, dann blickte auch er zum Himmel. Natürlich sah auch er den milchigen Schleier und konnte ihn mit den Giften aus den Atmosphärenwandlern assoziieren. Somit konnte er Mavis Gefühlslage verstehen, er selbst empfand ähnlich.
„So!“ sagte Mavis dann nach einem weiteren Augenblick. „Hier!“ Er sorgte dafür, dass das Bild des Langstreckenradars auf dem Hauptbildschirm zu sehen war. „Dann lass uns mal sehen, was wir haben!“
Kaum erschien das Bild auf dem Schirm, betrachteten es beide Männer jeder zunächst still für sich selbst.
Zu sehen war die Küstenlinie Tibuns . Der obere Bildrand endete knapp unterhalb der tibunisch-oritaischen Grenze, der untere Bildrand reichte bis etwa fünfhundert Meilen nördlich der Grenze zu Waribant im Süden. Ziemlich zentral im Bild lag Porista , die Hauptstadt des Landes. Immititosh und der Uto-Avo-See einige hundert Meilen nördlich waren gerade noch im Bild. Im Süden gab es keine größeren Städte mehr, da er fast gänzlich von dichtem Dschungel bewachsen war.
Da das Amulett als Standort des Kristalls einen Ort in unmittelbarer Nähe von Porista angezeigt hatte, war das weitere Hinterland Tibuns ebenfalls nicht auf dem Bildschirm.
Einzig der Tafelberg mit seinem Hochplateau einige Meilen südwestlich der Stadt war am linken Bildrand noch gut zu erkennen.
„Okay!“ meinte Vilo schließlich. „Laut Shamos und Matu liegt unser Ziel etwas südwestlich von Porista. Also so ziemlich zwischen der Stadt und diesem Bergmassiv da!“
Mavis nickte. „Und damit genau da, wo der Feind ist!“ Er spielte auf die Tatsache an, dass quasi das gesamte Stadtgebiet, aber auch die nähere Umgebung nur so von feindlichen Signalen wimmelte. Außerdem thronte der widerliche Rüssel einer verdammten Anomalie über dem Norden der Stadt, Alles erinnerte ihn stark an das Bild, das sich ihnen stets geboten hatte, wenn sie Ara Bandiks angeflogen hatten.
Vilo brummte und nickte. „So viel zu einem kleinen, geschmeidigen Plan!“
Mavis erwiderte nichts, sondern nickte nur mehrmals vor sich hin, während beide Männer wieder stumm ihren Gedanken nachhingen.
„Wir haben aber doch gar keine andere Wahl!“ meinte Mavis dann. „Wenn der Kristall dort ist, wo Matu und Shamos es sagen und wir ihn wirklich holen wollen, dann müssen wir eben auch dorthin!“
„Aber wir können wohl kaum direkt anfliegen!“ gab Vilo zu bedenken.
Mavis schüttelte den Kopf. „Sicher. Aber wir müssen trotzdem so nahe wie möglich ran, wollen wir nicht noch tageklang durch diesen verdammten Dschungel eiern!“
„Da hast du Recht!“ stimmte Vilo zu. „Das macht keinen Sinn!“ Er betrachtete nochmals das Radarbild. „Dann schlage ich vor, wir nutzen die einzige Deckung, die weit und breit zu sehen ist!“
„Das Bergmassiv!“ Mavis nickte nachdenklich. „Tausendvierhundert Meter Höhe sollten Deckung genug sein!“
„Ich könnte südlich davon auftauchen!“ Vilo deutete auf die entsprechende Stelle auf dem Radarschirm. „Dann eine kurze Strecke querab und schon wären wir hinter dem Massiv verschwunden!“ Er hielt kurz inne und fuhr dann fort, während er mit dem rechten Zeigefinger die Strecke nachzeichnete. „Dann dicht und niedrig an den Ausläufern entlang nach Westen und schließlich nach Norden, bis...!“ Er überlegte kurz. „...dahin würde ich sagen!“ Er deutete auf eine Art Verwerfung oder besser Gebirgskette, die im nordwestlichen Bereich des Tafelberges abzweigte und einige hundert Meilen mehr oder weniger Richtung West-Nordwest verlief. Sie war mit knapp vierhundert Metern Höhe wesentlich niedriger, als der Berg selbst, aber sicherlich hoch genug, um sich hinter ihr unbemerkt anzuschleichen. Tatsächlich waren es von dort aus nur noch vier Meilen bis zu ihrem Zielpunkt und sechs bis Porista .
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