1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Der von Ihnen ersehnte geruhsame Lebensabend ist also alles andere als greifbar nah … und ruhig wird er schon mal gar nicht, wenn ich Ihnen virtuell zwischen den Füßen rumlaufe :-) Das soll keine Drohung sein, nur eine halbdezente Vermutung. Und ob Sie sich dabei stressplagen, bleibt Ihnen überlassen.
“ Über die Kindheit – vielleicht auch im Kontext Ihrer und meiner – lohnt sich ja schon fast ein neues, eigenes Forum privater Couleur?! Doch wenn, dann bitte mit mehr Ruhe (auch wenn Sie seinerzeit in Ihrer anders empfunden haben mögen).“
Das ist eine wirklich interessante Idee: unsere Kindheitserinnerungen gegenüber gestellt. Wann sind Sie geboren? Bei Ihrem Ruhebedarf, von dem Sie auch in diesem Zusammenhang wieder sprechen, habe ich eine Schätzung vorgenommen, die nicht vorteilhaft ausfällt ;-)))))))))))))))))))))))
Sie haben gar nichts angerichtet, Herr Benn. Alles ist gut! … und ohne Ihre Worte wäre mein Leben ... weniger amüsant :-)
Das geheimnisvolle Grinsen hält immer noch an … ich weiß nicht, wie lange noch …
Isa Ketelsen
Bei Gerald Benn im Tablinium
Auf die “alte Dame“ in seinem Tablinium ist Verlass. A la minute gibt sie Gerald Benn zu Gehör, was die Stunde geschlagen hat. Die “alte Dame“, wie er sie liebevoll nennt, ist ein Erbstück von seinen Großeltern – mütterlicherseits, wie er auf Fragen diesbezüglich unterstreicht.
Vier Mal ertönt in Fis-Dur der quirlige, fast sprudelnde Klang, der eine volle Stunde ankündigen wird. Gerald Benn erinnert ihn an eine Passage im Venetianischen Gondellied von Felix Mendelssohn Bartholdy. Zu dieser vollen Stunde folgen etwas zögernd mehrere sonore, fast schon dumpf klingende Glockenschläge aus dem verglasten Pendelgehäuse, elf an der Zahl – in Gerald Benns Ohren klingen sie mollig. Es ist ein äolisches a-Moll, wie ihm ein befreundeter Bassist und großer Led Zeppelin-Fan bestätigte – Stairway To Heaven lässt grüßen.
Mit dem letzten Ton des antiken Zeitzeichens beugt sich Gerald Benn leicht über seinen Schreibtisch und macht sich noch ein paar Notizen für die um 11 Uhr anberaumte Besprechung mit zwei erwarteten Geschäftspartnern. Die sich jedoch etwas verspäten werden, wie er vor kurzem mitgeteilt bekam.
Diese Tatsache ausnutzend, betritt eine weitere “alte Dame“ das Arbeitszimmer von Gerald Benn. Es ist seine Sekretärin, seine Haushälterin, seine Concierge, seine Hausmeisterin, zusammengefasst sein “Mädchen für alles“. Weder das Mädchen für alles, noch die alte Dame sind für ihn despektierliche Bezeichnungen für Agnes, die seit nunmehr 19 Jahren sowohl seinen Geschäfts- wie auch seinen Privatbereich führt. Was heißt führt? Agnes hat alles im Griff – besser jedenfalls als er. Und etwas Besseres hätte Gerald Benn mit Agnes auch nie und nimmer passieren können. Sie kam mit 50 in sein Büro, mit dem Beginn seiner Selbständigkeit, ist bis heute geblieben, und denkt überhaupt nicht an irgendwelche Formen eines Ruhestandes. Agnes ist die gute Seele: Im Geschäft hat sie die Geschäfte von Gerald Benn im Griff, sobald er in seinem Tablinium sitzt. Und in seiner Privatsphäre hält sie den Lebensraum von Gerald Benn in Schuss, wenn er nicht im Hause ist.
Das sich mit der Selbständigkeit alles zusammen auf ideale Weise fügen sollte, bezeichnet Gerald Benn heute noch als Glücksgriff. Dass er von Anbeginn unter einem Dach leben und arbeiten konnte – in seinem Domicilium und in seinen Tablinium, wie er es nennt... für ihn war es Zufall, andere nennen es Schicksalsfügung.
Eine Ende des 19. Jahrhunderts erbaute Fabrikantenvilla musste aufgelöst werden. Der Besitzer war verstorben, die dazugehörige Fabrik schon länger in ausländische Hände übergegangen. Was erhalten blieb, war diese Villa. Und eine Stiftung, in die diese Villa überführt werden sollte. Sie wurde im Haupttrakt zum Museum für Kunstwerke, die der seinerzeit erfolgreiche Unternehmer zu seiner nicht unbedeutenden Sammlung erwerben konnte. Doch die Nebengebäude, der so genannte Gesindeteil, war daneben noch so geräumig, dass sie dort bequem zu Wohn- und Geschäftsräumen für einen Einzelkämpfer umgebaut werden konnten. Und später dann, zur Freude für Agnes, sich unter dem ausgebauten Dach ebenfalls eine recht großzügige Herberge für sie eröffnete. Das Ganze gab es zu einem Mietpreis, von dem jeder nur träumen kann: Die Stiftung darf nicht gewinnmaximiert tätig werden, d. h., alle Einnahmen dienen lediglich der Erhaltung und Instandhaltung der Villa und den Ausstellungsräumen. Somit halten sich die Kosten für die private und geschäftliche Nutzung von Gerald Benn sowie seiner guten Seele Agnes in mikrokosmopolitischen Grenzen.
Diese gute Seele bringt nun Gerald Benn die Post des Tages, um genau zu sein, die Post, die heute am 12. Mai eingegangen ist. Immer um plus minus 11 Uhr. So lange die beiden zurückdenken können, gab es vielleicht eine an einer Hand abzuzählende größere zeitliche Verzögerung, weil der zuständige Zustellbote unausweichliche Verspätungen einkalkulieren musste, einmal sogar witterungsbedingt ganz ausfiel. Heute ist ein wunderschöner Frühlingstag, so dass der Überbringer die unterschiedlichsten Botschaften, die noch verpackt an den Adressaten gehen, pünktlich dem Empfänger überreichen kann. Dass seit der Einführung privater Zustelldienste Agnes mehrmals ins Tablinium kommen muss, ist Gerhard Benn zwar ein Dorn im Auge. Nicht wegen Agnes, ihre Anwesenheit ist meist von einem zusätzlichen Kaffeeduft begleitet. Nein, bis zu dreimal am Tag briefliche Post sichten, stört ihn; ihm wäre es lieber, bis mittags seine schriftliche Korrespondenz vom Schreibtisch zu haben.
So kommen Agnes und die Post auch heute: Es sind die üblichen Geschäftsbriefe, die sie meist geöffnet und vorsortiert hat. Rechnungen bekommt er nur noch in wenigen Einzelfällen zu Gesicht, diese unangenehmen, jedoch nicht zu vermeidenden Aufgaben, die sich aus deren Inhalten ableiten, erledigt Agnes zur Freude seines Steuerberaters sehr gewissenhaft von selbst. Zeitungen, Zeitschriften, Magazine und sonstige Publikationen werden nach Priorität ihrer Lesebedeutung gestapelt auf die linke Seite des Schreibtischs gelegt. Insgesamt das tägliche Ritual, das sich eingespielt hat, das perfekt aufeinander abgestimmt ist.
Private Post hingegen, so ihn überhaupt noch welche erreicht, bekommt er selbstverständlich im verschlossenen Umschlag in die Hand gedrückt. Für Gerald Benn ganz überraschend, die heutige Ausnahme: Agnes reicht ihm ein Päckchen – von der Größe her könnte es ein Buch beinhalten. Die Adresse mit der Hand geschrieben, der Absender ebenfalls.
Das kleine “i“, es fällt sofort ins Auge, nicht mit einem Punkt, sondern mit einem runden Kringel überdacht. Eine Schrift, die Gerald Benn noch nie gesehen hat. Ein Absender, den Agnes vorhin beim Umdrehen des Päckchens noch nie gelesen hat, und der sie auch etwas irritiert. Eine Person mit Vornamen Isa? Kann männlich oder weiblich sein, wie sie weiß – genealogisch betrachtet. Graphologisch gesehen deutet es mehr auf eine feminine Schrifttypologie hin.
Agnes achtet auf die Reaktion von Gerald Benn, mit einem verschmitzten Blick, leicht lächelnd, den Kopf etwas nach links geneigt. Gerald Benn schaut auf den Absender, dann Agnes an, etwas verlegen grinsend, er hebt seine Schulter, um seine Unkenntnis und Kenntnis gleichermaßen zu signalisieren. Beide schmunzeln sich – ohne genau zu wissen, was Sache ist – verständnisinnig an.
Mit den Worten, dass die beiden Herren wohl in Kürze eintreffen werden, macht sich Agnes auf den Weg in die Küche, um nochmals frischen Kaffee zuzubereiten. Gerald Benn hält immer noch verdutzt das ihm in die Hand gedrückte Päckchen und fixiert die Absenderangabe: Isa Ketelsen, Conjunto Arqueológico Baelo Claudia, Calle Almodóvar, s/n 11380 Tarifa / España. Neugierig reißt er dann doch den Umschlag auf: Ein Buch, dessen Titel er nicht kennt und vom Autor auch noch nie gehört hat – Prentice Mulford, Unfug des Lebens und des Sterbens. Es bleibt rätselhaft für ihn. Zwischen den Seiten 30 und 31 steckt ein Brief, auf dem zartgelb-transparenten Umschlag steht sein Name. Diesen wiederum öffnet er sehr viel behutsamer, er faltet die zwei Seiten auf. Auf der ersten Seite fängt er an zu lesen “Lieber Herr Benn, ich würde jetzt gerne Ihr Gesicht sehen :-)“, überfliegt kurz das Geschriebene, um am Ende der zweiten Seite zu erfahren, wer ihm dieses Buch zugesandt hat: “Ich liebe diese Geschichte! Mit herzlichen Grüßen Isa Ketelsen“.
Читать дальше