Es staubte dennoch durch den ganzen Raum, als er die Deck- oder Farbschicht über dem Torso abschliff. Das dauerte fast eine halbe Stunde, und die Kommissarin begann sich bereits um ihr Date zu sorgen. Nicht auszudenken, wenn sie das verpasste. Schließlich hatte der alte Mann den Körper einigermaßen freigelegt und den Staub aufgesaugt. Elena atmete trotzdem nur noch durch die Nase. Ihr Magen rumorte.
»So!« Dr. Richter nahm ein Skalpell zur Hand. »Jetzt wollen wir mal sehen, was die Dame so hartgemacht hat.« Er säbelte an der Trennkante des linken Oberschenkels herum, bis er zwei größere Stücke abgetrennt hatte. An dem einen schnüffelte er mit geschlossenen Augen und hielt es dann Denizoglu unter die Nase. »Was ist das, was meinen Sie?«
Sie schloss ebenfalls die Augen, um besser riechen zu können. »Eine Art Kunststoff, würde ich sagen? Irgendwas in meinem Auto riecht so.« Sie öffnete die Augen und sah sich das Stück an. Das waren mal Haut und Muskeln von einem Bein gewesen. Aber jetzt war es nur eine Probe. »Und etwas Stechendes, aber nur sehr undeutlich.«
»Gut gerochen, Frau Kommissarin«, lobte sie Richter. »Das ist vermutlich Azeton. Bei dem Kunststoff bin ich mir nicht sicher. Entweder ein Harz, oder eine Mischung mit einem Gießharz, vielleicht mit Silikon. Silikon ist geruchlos.« Er nahm das andere Stück und gab es Lange. »Legen Sie das mal in den Spektrographen.«
Lange marschierte mit dem Stück aus dem Raum. Richter ging mit seinem Stück zu einem Gerät, das auf einem Tisch an der Wand stand. »Ich werde mal die Härte messen, das hilft uns auch weiter.«
Elena nutzte die Zeit und sah sich den Torso an. Der sah zwar nach dem Schleifvorgang leicht gestreift aus, aber sonst wie ein gesunder weiblicher Körper, in der richtigen, rosig-hellen Farbe. Und er wirkte elastisch und sportlich. Schlank war die Frau gewesen, und gepflegt. Kein Pickel, keine Falten, keine Narben, nicht mal am Blinddarm. Fast wie ein Kunstwerk, fand sie. Wenn ihre klaffenden Geschlechtsteile nicht gewesen wären. Die hatten ihre Botschaft noch nicht preisgegeben.
»Einhundertzwanzig Megapascal«, rief Richter ihr zu. »Das spricht für eine Gießharzkomponente, zusammen mit weicheren Verbundstoffen. Vielleicht wirklich Silikon. Interessant.« Er trat von seiner Versuchsanordnung zurück und auf sie zu. »Kennen Sie den Plastinator? Gunter von Hagens? Der hat solche Sachen gemacht. Leichen gehärtet, aufgeschnitten und dann ausgestellt. Körperwelten, so hieß das damals. Das hier sieht mir fast nach seiner Schule aus.«
Elena kannte den Namen nicht. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid.«
»Sollten Sie aber. Seine Spezimina stehen heute in jeder anatomischen Lehranstalt. Sie können damit sogar non-invasiv operieren üben.« Sie schüttelte noch mal den Kopf. »Na ja, Sie sind ja auch nur Polizistin,« tröstete er sie. »Und vielleicht noch zu jung, den Trubel damals haben Sie noch nicht miterlebt.«
Die Kommissarin wusste nicht, wovon Richter sprach. Aber sie würde sich das ansehen, nahm sie sich vor.
Lange kam mit einem Ausdruck zurück. Darauf stand eine Liste von chemischen Bezeichnungen, die ihr nicht viel sagten. Aber Richter pfiff durch die Zähne. »Sieh mal einer an! Silikon S 10 und Epoxidharz! Hab’ ich’s nicht gesagt!«
»Das gibt uns etwas zum Todeszeitpunkt«, wandte er sich ihr zu. »Die Materialien passen. So ein Plastinierungsprozess dauert drei bis vier Wochen. So lange muss die Frau schon tot sein. Dazu passen auch die Kälteschrumpfungen an den eingefrorenen Teilen und an der Made. Passt, passt! Sie bekommen dazu natürlich einen ausführlichen Report.«
Er wandte sich dem Präparator zu. »Herr Lange. Auftrennen, bitte. Einmal längs, und je einmal in Höhe des Brustmuskelansatzes und des Zwerchfells quer, bitte”, forderte er den Präparator auf. »Unorthodox, aber was bleibt uns übrig.« Lange verließ den Raum und kam mit einer dünnen elektrischen Kettensäge zurück, die er einstöpselte und anwarf.
Elena wurde es unwohl in ihrer Haut. Sie wusste nicht, ob sie das noch sehen wollte, außerdem war es schon nach sechs Uhr. Sie musste los, wenn sie das Treffen mit den Kollegen und vor allem ihr Date nicht verpassen wollte. »Ich muss da ja nicht unbedingt mehr dabei sein, oder?«, fragte sie Richter.
»Wie? Natürlich müssen Sie! Wir müssen noch histologische und Blutuntersuchungen durchführen, ganz zu schweigen von der Besichtigung der Organe!«
»Lassen Sie mir einfach den Bericht zusenden«, sagte sie matt und zog sich in Richtung Tür zurück. »Sie sind die Koryphäe, ich kann dazu sowieso nicht viel beitragen, außer mir das Ganze anzusehen und schlecht zu werden.« Sie schloss die Tür hinter sich. Sie hatte etwas Besseres zu tun als sich fremde Frauen von innen anzusehen.
Kapitel 9
Frau Mona Meyer-Hinrichsen
Irgendetwas störte mich an diesem Text noch, auch wenn mir nicht klar war, was das war. Außerdem wusste ich längst nicht mehr, was genau vor ein paar Jahren Realität gewesen war und was ich mir später ausgedacht hatte. Der Text hatte eine Eigendynamik entwickelt, genau wie die Gefangenschaft unten im Keller.
Wie erwartet schlief die Lektorin. Aber sie musste etwas essen und trinken, noch war ihre Reise nicht zu Ende. Ich hatte ihr ein Fläschchen gemacht, da war alles drin, was sie brauchte. Losmachen wollte ich sie nach der letzten Erfahrung lieber nicht.
Als Erstes musste ich ihre neue Windel abmachen. Auch die war unbenutzt. Sie war wirklich sehr diszipliniert. Fast schade, dachte ich.
Als ich ihr den Klebestreifen vom Mund entfernt hatte und ihr das Fläschchen geben wollte, drehte sie den Kopf zur Seite. Sie wollte reden, nicht trinken.
»Sie können kein Blut sehen«, stellte sie fest. »Sie konnten mir die Finger nicht abschneiden, nicht wahr? Sie werden mich nicht umbringen. Was ist mit der Frau in diesem komischen Krimi passiert?«
»Sie konnte entkommen«, sagte ich. »Aber erst, nachdem vier andere Frauen grausam umgebracht worden waren. Und ich werde dir nicht sagen, ob du die Nummer eins oder die Nummer fünf bist.«
»Und wie sind die gestorben?«, wollte sie wissen.
Ich schob ihr die Nuckelflasche in den Mund und drückte ihr etwas vom Inhalt hinein. Nach anfänglicher Gegenwehr siegte der Hunger, und sie nuckelte gierig am Sauger. »Das ist alles von Feinkost Käfer«, informierte ich sie. »Alles püriert, natürlich. Wenn du brav bist, bekommst du sogar ein Gläschen Wein.«
Sie nuckelte weiter, gierig.
»Verschiedene Todesarten«, erzählte ich. »Eine wurde erwürgt, eine andere ist verhungert. Eine hat sich befreit und aus Ekel selbst aufgehängt. Die letzte ist im Unrat im Kanal ertrunken.«
»Alles ohne Blut«, befand sie zwischen zwei Schlucken aus der Flasche. »Schon mal schlecht. Frauen wollen Blut sehen. Blut ist wichtig. Blut ist Leben, aber auch Tod. Als Frau hat man ständig damit zu tun. Ohne Blut ist dein Krimi schon mal maximal nur die Hälfte wert.« Sie nuckelte weiter, zufrieden mit ihrer Analyse.
Da hatte sie mich vielleicht tatsächlich erwischt. Blut war in dem Text, den ich ihr geschickt hatte, tatsächlich nicht geflossen, erst zum Schluss. Das des Täters.
Ich staunte schon wieder über Frau Meyer-Hinrichsen. Sie war in keiner Position, irgendetwas entscheiden oder beeinflussen zu können. Und doch manipulierte sie mich nach Strich und Faden.
Sie werden mich nicht umbringen, hatte sie gesagt.
Mit einer ihrer Aussagen hatte sie erstaunlicherweise recht. Ich konnte tatsächlich kein Blut sehen, oder vermied es nach Kräften. Selbst als die Amis die gefangenen Taliban verhört und gefoltert hatten, hatte ich dafür gesorgt, dass das unblutig vor sich ging. Elektroschocks, Waterboarding, Prügel.
Aber es hatte auch andere Szenen gegeben, an die ich nicht gern dachte. Einem Stammesführer hatten sie eine Schweineniere transplantiert und ihm gesagt, dass sie sie nur wieder entfernen würden, wenn er redete. Einen anderen hatten sie mit Schweineblut übergossen. Das hatte mir zugesetzt.
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