Hatte nicht Jökelmöller auch von einem Lager gesprochen? Dort, wo er noch ein letztes Videospiel für den merkwürdigen Kunden fand? Ich sah mich um. Türen zum Lager waren im Allgemeinen etwas größer. Größer jedenfalls als die Tür, auf der ‚Personal’ stand. Dann endlich fand ich sie. Ziemlich unauffällig und ein wenig hinter einer Regalwand versteckt. Es handelte sich um eine Doppeltüre, die auch groß genug war, um einen Hubwagen mit Paletten durchzulassen.
Vorsichtig drückte ich die Klinke nieder. Geräuschlos schwang die Tür auf. Ein kurzer Rundumblick zeigte mir, dass niemand in der Nähe war. Es würde mir jetzt noch fehlen, wenn Sanurski wieder hinter mir stünde. Aber niemand da. Prima. Leise schlich ich durch den schmalen Spalt der geöffneten Tür, dann schloss ich sie vorsichtig und ohne ein Geräusch zu verursachen. Ein kurzer, dämmeriger Gang empfing mich, der lediglich schwach von einigen Lampen erhellt wurde. Das konnte nur der Weg zum Lager sein. Hinter einer weiteren Doppeltüre befand sich wirklich ein großer Lagerraum. Lautlos schloss ich auch diese Tür hinter mir. Hier war die Beleuchtung etwas besser, an der Decke befanden sich in regelmäßigen Abständen Leuchtstofflampen. Sofort suchte ich mir eine passende Deckung. Dann schaute ich mich in dem Raum um. Hohe Regale säumten die Wände und einzelne Kisten und Paletten standen in Gruppen davor. Ein schmaler Gang - gerade breit genug für einen Hubwagen mit Palette - blieb in der Mitte frei.
Das Lager. Ort der Waren. Hort verkäuflichen Gutes. Hier nahm alles seinen Anfang. Doch ich durfte mich jetzt von meinen Gedanken nicht ablenken lassen. Wo befand sich Birgit? Ich konnte sie nicht sehen. Auch nicht die Palette oder die Leute der Firma Pleckla. Wo steckten die alle? War ich im Endeffekt doch auf der falschen Fährte?
Ich beschloss, mein Versteck zu verlassen und weiter in den Raum vorzudringen. Vorsichtig schlich ich an einigen Paletten vorbei. Immer bereit, mich dahinter Schutz suchend zu ducken. Zwischendurch lauschte ich auf irgendwelche Geräusche oder Stimmen, vernahm aber nicht den geringsten Ton.
Ob dieses Kaufhaus am Ende über vielleicht mehrere Lager verfügte und ich mich im falschen befand? Eine weitere Doppeltüre erregte meine Aufmerksamkeit. Mittlerweile war ich mir sicher, dass sich niemand außer mir in diesem Raum befand. Trotzdem schlich ich so leise wie möglich zu der Türe. Auch sie schien nicht verschlossen, denn nachdem ich die Klinke heruntergedrückt hatte, öffnete sich ein Flügel quietschend. Erschrocken hielt ich inne. Tageslicht drang durch den Spalt. Aha, dies war eine Außentür. Trotz anhaltenden Quietschens zog ich den Flügel weiter auf.
Und blickte zunächst auf das Heck eines Transporters. Eine der hinteren Türen stand offen und im Inneren erkannte ich mehrere Paletten. Dann blickte ich in die Mündung einer Pistole. Anders als beim Wagen, erkannte ich den Typ direkt: Eine Ruger SR9.
Jetzt ist der Blick in die Mündung einer Waffe nicht besonders angenehm. Besonders dann, wenn der Besitzer einen böse angrinst. „Du hast uns gerade noch gefehlt! Deine kleine Freundin haben wir schon kassiert, da kommst du gerade recht. Glaubt ihr denn, wir hätten nicht bemerkt, wie ihr uns beobachtet habt? Und als die Kleine vorhin auch noch hinter uns her schlich, da war der Ofen voll.“
„Ofen aus oder Maß voll“, korrigierte ich, erntete aber lediglich ein Achselzucken.
„Klugscheißer biste wohl auch noch? Jedenfalls lassen wir uns nicht von irgendwelchen Aushilfsarbeitern an die Karre pissen.“
Der Mann redete und redete. Dabei fuchtelte er mit seiner Pistole herum. Hätte ich es nicht besser gewusst, dann wäre meine Angst vor einem unabsichtlichen Schuss recht groß geworden. Nun hat die Ruger SR9 aber eine Eigenschaft, die die Waffe und die Bedrohung berechenbar macht: Befindet sich nämlich eine Patrone in der Kammer, dann schnellt eine Anzeige auf dem Schlitten heraus, die an beiden Seiten rot gekennzeichnet ist. Eine nette Sicherheitsmaßnahme der Firma Sturm & Ruger Inc., die diese Waffe seit dem Jahr Zweitausend herstellt.
Und solch eine Anzeige konnte ich beim besten Willen nicht ausmachen. Also befand sich auch keine Patrone in der Kammer. Ich lächelte. Es dürfte nur noch Sekunden dauern, bis dieser Knabe vor mir im Staub liegen würde. Unauffällig sah ich mich nach seinen Kollegen um, konnte aber niemanden entdecken. Die befanden sich wohl schon im Transporter. Ich setzte schon zum oft geübten Krav Maga Schlag an, als die Worte des Gangsters meine noch nicht begonnene Bewegung auch schon im Keim ersticken ließen.
„Der Chef wird sich freuen, euch Früchtchen begrüßen zu dürfen.“ Wieder wedelte er mit der Waffe herum. „Los, rein in den Transporter. Und gib ja keinen Mucks von dir, sonst knall ich dich schneller ab, als dir lieb ist!“
Ich nickte ernst. ‚Der Chef wird sich freuen’, nun ja. Ich beschloss, das Spiel mitzuspielen und den Chef dieser Bande kennenzulernen. Zwar könnte ich die Typen jetzt und hier dingfest machen, aber meine Neugier siegte. Mit gesenktem Kopf ließ ich mich an die Seite des Transporters zu einer Schiebetür führen. Im Fahrerhaus erkannte ich seine drei Komplizen, die uns jetzt neugierig anblickten. „Noch einer“, grinste mein Bewacher und öffnete die Tür. Verzweifelt blickte mir Birgit entgegen. Die Ganoven hatten ihr die Hände und den Mund mit Klebeband gefesselt. Unauffällig nickte ich ihr beruhigend zu.
„Los, die Hände nach hinten!“ Klebriges Gewebeband wurde um meine Handgelenke geschlungen. Dann bekam ich einen Stoß in den Rücken und stolperte mit Mühe in den Transporter. Unangenehmerweise schlug ich mir dabei das Knie an. Ich beschloss dies dem Gauner später heimzuzahlen.
„Kein Wort, sonst knall ich dich ab!“ Krachend schlug die Tür zu. Dann hörte ich, wie die hintere Türe ebenfalls geschlossen wurde. Im Innern des Transporters wurde es dunkel, zumal es weder Fenster, noch eine Verbindung zur Fahrgastzelle gab. Birgit stöhnte gequält auf.
„Keine Sorge, Birgit“, beruhigte ich sie. „Ich habe alles im Griff.“
Sie murmelte etwas, das ich aber nicht verstehen konnte. Wenige Sekunden später setzte der Wagen sich in Bewegung. Mit quietschenden Reifen und aufbrüllendem Motor schoss das Fahrzeug vorwärts. Um wirkliche Profis konnte es sich hier nicht handeln, die wären unauffälliger vom Hof gefahren.
Wir wurden in dem Transporter arg durchgeschüttelt und mehr als einmal befürchtete ich, dass die Paletten neben uns umkippen oder ins Rutschen kommen könnten. Birgit blickte mich ängstlich an und ich sprach beruhigend auf sie ein. Dann endlich stoppte der Wagen mit quietschenden Reifen. Türen schlugen und krachend öffnete sich unsere Schiebetür. Erneut blickten wir in die Mündung der Ruger.
„Los raus! Alle beide.“
Das grelle Sonnenlicht blendete mich und ich blinzelte in die Helligkeit, bevor ich von der niedrigen Ladekante sprang. Beinahe wäre ich ins Straucheln gekommen, was ich im letzten Moment aber verhindern konnte. Mit den Händen auf dem Rücken hätte ich mich bei einem Sturz unweigerlich verletzt.
Wir standen vor einer Lagerhalle in so einer Art Industriegebiet. Ein langgestreckter Bau, der sich in nichts von den üblichen Lagerhallen unterschied. Die beiden Frauen verschwanden gerade durch eine kleine Türe, die rechts von einem Tor angebracht war. Der zweite Mann dieses Diebes - Kleeblatts machte sich an den Hecktüren des Transporters zu schaffen. Kurze Zeit später öffnete sich das Rolltor rasselnd und eine der Frauen erschien mit einem Hubwagen. Die Gauner waren gut organisiert, stellte ich fest. Jetzt galt es nur noch herauszufinden, wie schwer bewaffnet die Truppe war. Verfügte jeder der Gangster über eine Pistole, oder war die Ruger die einzige Waffe? Und die Hände musste ich freibekommen. Leider erwies sich das Klebeband als äußerst widerstandsfähig. Ohne Birgits Hilfe würde ich kaum freikommen.
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