„Pssscht“, antwortete ich und näherte mein Gesicht dem ihren. „Krlllbdr blubbbb.“ Sanft stupste ich sie mit meinem Kopf an. „Jrrrrlll!“, schrie sie wieder - so gut es dank des Klebebandes ging.
„Hrrrtag kriiii“, versuchte ich es erneut, dann ließ ich meinen Kopf auf ihre Hände, die sie in den Schoß gelegt hatte, sinken.
„Jrrrrlll!“ Ein unsanfter Stoß ins Gesicht warf mich etwas zurück. Dann schien das Mädchen zu verstehen, was ich von ihr wollte. Vorsichtig tasteten einige Finger in meinem Gesicht herum. Als ein Finger in meine Nase glitt, hörte ich sie „jjjiiiklklkl“ kichern.
Dann endlich fand sie den Anfang des Klebebandes und riss es langsam und genüsslich ab. Ich spürte, wie einige Haare daran kleben blieben. So musste sich das Enthaaren mittels Klebeband anfühlen. Keine schöne Sache.
„Danke Birgit. Schön, dass du doch noch verstanden hast, was ich meinte“, bedankte ich mich und ging mit meiner Zunge über die aufgerissene Lippe. Ich schmeckte Blut.
„Grrrssslll hubbb.“
„Ja, ich weiß, was du meinst“, erwiderte ich beruhigend. „Du musst jetzt Folgendes versuchen: du musst mit beiden Händen einen Riss in mein Klebeband machen. Warte, ich drehe mich um. Sobald das Band eingerissen ist, kann ich es komplett zerreißen.“ Soweit die Theorie. Ich hoffte nur, dass Birgit es schaffen würde, das Band einzureißen.
„Hrrrlllb gasdagrrr.“
Was immer sie meinte, musste warten, bis ich ihren Knebel entfernt hatte. Mühsam drehte ich mich herum und schließlich kamen wir so zu liegen, dass sie meine Fessel mit ihren Händen erreichen konnte. Ich spürte, wie sie vorsichtig an meinen Handgelenken herumtastete.
Es dauerte eine ganze Weile, dann vernahm ich ein reißendes Geräusch und Sekunden später waren meine Hände wieder frei. Wie ich spürte, hatte Birgit das Klebeband nicht einfach eingerissen, sondern komplett entfernt. Cleveres Mädchen!
Ich drehte mich vorsichtig um, tastete jetzt meinerseits in ihrem Gesicht herum und entfernte mit einem Ruck ihren Knebel. Ein tiefes Luftholen, gefolgt von einem „Danke Jonathan“ belohnte mich. Wenig später waren auch ihre Hände frei.
„Ekelhaft, dieses Klebeband“, meinte Birgit und ich hörte die Erleichterung aus ihren Worten heraus. „Und wie geht es jetzt weiter?“
Mein Plan stand schon fest und leise erklärte ich ihr: „Wenn wir hier raus sind, läufst du zur nächsten Straße und siehst zu, dass du irgendwie an ein Telefon kommst. Entweder du findest jemanden mit einem Handy oder du musst in einen Laden oder etwas Ähnliches gehen. Oder klingele an einer Wohnung. Hauptsache du kannst telefonieren. Stelle auch fest, wo wir uns befinden. Dann verständigst du umgehend Bernd und berichtest ihm oder Jennifer was hier los ist. Die wissen dann schon, was zu tun ist. Du bleibst auf jeden Fall in Sicherheit. Komm nicht hierhin zurück, außer die Polizei oder einer von uns ist dabei. Hast du das verstanden? Es ist enorm wichtig, dass du einmal tust, was ich dir sage.“
„Ja, Jonathan. Das habe ich verstanden und ich werde es genauso machen, wie du sagst. Aber was ist mit dir?“
Machte sie sich jetzt Sorgen um mich, oder war es einfach nur Neugierde? Ich beschloss, dass es die Sorge war, die sie zu dieser Frage bewog. „Ich bleibe hier und beobachte. Da wir unbewaffnet sind, macht es natürlich keinen Sinn, die Bande anzugreifen. Also halte ich mich bis zum Eintreffen der Polizei versteckt. Aber jetzt los, ich habe keine Ahnung wie spät es ist und die Typen können jederzeit zurückkommen.“
Tastend arbeitete ich mich zur Schiebetür vor. Ich hoffte nur, dass der Ganove sie nicht abgeschlossen hatte. Jedenfalls war vorhin nichts davon zu hören gewesen. Mit einiger Mühe fand ich den Griff zum Öffnen. Gespannt hielt ich die Luft an. Dann drückte ich den Griff. Die Tür ließ sich öffnen. Leise schob ich sie weiter zurück. Tageslicht fiel in den Wagen und erleichtert atmete ich aus. Diese Hürde war überwunden.
Nachdem meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, warf ich einen prüfenden Blick hinaus. Der Wagen stand immer noch mit der Front zum Tor, aber niemand schien in der Nähe zu sein. Wofür auch eine Wache aufstellen, wenn man uns ja ohnehin sicher gefesselt im Wagen glaubte? Trotzdem bedeutete ich Birgit noch zu warten und schlich zur Sicherheit erst einmal komplett um das Fahrzeug herum. Niemand zu sehen. Prima. Birgit müsste jetzt lediglich herausfinden, wo wir uns befanden und telefonieren. Aber das durfte ja nicht allzu schwer sein, denn in der Einöde waren wir hier mit Sicherheit nicht. Vorsichtig half ich der Kleinen aus dem Wagen, dann schloss ich die Tür so leise es ging.
„Du gehst in dieser Richtung“, flüsterte ich und zeigte von der Lagerhalle fort. „Da hinten ist eine Straße. Also, alles wie besprochen: Du hältst ein Auto an, einen Passanten oder findest sonst eine Gelegenheit zum Telefonieren. Und vergiss nicht, festzustellen, wo wir uns befinden.“
„Ich bin doch nicht blöd, Jonathan“, erwiderte sie und rannte mit langen Schritten Richtung Straße. Ich blickte mich noch einmal um und schlich dann zu der Tür in der Halle. Bisher hatte ich mir noch keine Gedanken über mein weiteres Vorgehen gemacht. Angreifen konnte ich die Bande nicht, das musste ich der Polizei überlassen. Aber ich könnte beobachten und vielleicht verhindern, dass die Herrschaften flohen. Leise schlich ich zu dem Transporter zurück.
Die Fahrertür war nicht verschlossen und rasch fand ich den Griff zum Entriegeln der Motorhaube. Leise und mich immer wieder umblickend, riss ich mehrere Schläuche am Motor ab. Das würde eine Flucht hoffentlich vereiteln oder wenigstens verzögern. Sicherheitshalber riss ich einen kleinen Schlauch komplett heraus und warf ihn mit Schwung über die kleine Mauer, die das Grundstück begrenzte. Dann schlich ich wieder zur Tür und lauschte, konnte aber von drinnen nichts vernehmen. Ich nahm mir vor, das Grundstück etwas genauer zu erkunden.
An der Seite der Lagerhalle befanden sich mehrere Parkplätze, von denen drei besetzt waren. Die Wagen waren alle fest verschlossen und ich blickte mich suchend um, bis ich endlich ein kleines Stöckchen entdeckte. Nacheinander ließ ich die Luft aus dem jeweils rechten vorderen Reifen der Fahrzeuge. Das würde eine Flucht ebenfalls erschweren, wenn nicht sogar verhindern.
Nach kurzer Zeit nahm ich meine Erkundigung wieder auf. Die Halle verfügte über keine Fenster oder weitere Türen. Zur Be- und Entlüftung diente eine Reihe von Oberlichtern, die auch jetzt teilweise geöffnet waren. Schließlich gelangte ich wieder zu der Tür.
Ich überlegte, ob es einen Sinn machen würde, wieder in das Lager einzudringen. Unbewaffnet wie ich war, ein riskantes Unterfangen. Aber was war das Leben schon ohne Risiko? Schließlich besaß ich ja noch meine beide Fäuste und meine Krav Maga Ausbildung. Leise und mit angehaltenem Atem drückte ich die Klinke der Tür herunter. Vorsichtig öffnete ich sie einen Spalt und lugte in das Gebäude. Im ersten Moment konnte ich niemanden erblicken. Ob dieser Paul immer noch ohnmächtig war? Ob mein Tritt ihm eventuell größeren Schaden zugefügt hatte? Jetzt schlüpfte ich durch den schmalen Spalt und schloss die Tür sofort wieder. Sekunden später duckte ich mich hinter einem Stapel leerer Paletten. Aus dem Büro drangen leise Stimmen. Geduckt schlich ich näher. Vielleicht würde ich hören können, was da besprochen wurde.
Eine der Stimmen identifizierte ich als Sanurskis. Ich versuchte noch etwas näher an das Büro heranzukommen, immer darauf bedacht auch ja in Deckung zu bleiben.
„Und wer sind die beiden?“, hörte ich gerade den Fetten fragen. Ich nahm an, dass diese Frage Sanurski galt.
„Keine Ahnung. Angeblich kommen die vom Arbeitsamt. Ich habe meine Informationen aber auch nur aus der Chefetage bekommen. Ein wenig merkwürdig schon, denn ich hatte keine zusätzlichen Leute angefordert.“
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