„Was ist denn das für eine Aussage?“, mischte sich der Staatsanwalt ein, der nach dem Rüffel beleidigt war. „Was ist denn ein akzeptabler Freundeskreis?“
„Keine Chaoten oder Spinner. Einfach ganz normale, junge Leute, die ihre Freizeit gemeinsam verbracht haben. Das ist die Aussage des Bruders und selbstverständlich werden wir das noch überprüfen.“
„Und niemand weiß, wo das Opfer gelebt hat? Das kann ich mir nicht vorstellen!“ Krohmer war schockiert von diesen Familienverhältnissen.
„Wir kümmern uns darum und werden es herausfinden“, sagte Leo, der ähnlich dachte wie der Chef.
„Irgendwelche Hinweise auf dem Handy oder Laptop?“
„Das ist etwas, was wir nicht verstehen“, sagte Leo. „Wir haben kein Handy, Tablet und keinen Laptop gefunden. Die Eltern sagten, dass ihre Tochter nichts davon besaß, was der Bruder bestätigte. Die Eltern legten immer großen Wert darauf, dass ihre Kinder ohne schädlichen Einfluss aufwuchsen, was Handys, Fernsehen und Computer einschloss.“
„In der heutigen Zeit schwer vorstellbar“, murmelte Krohmer. „Allerdings wissen wir nicht, ob es Laptop und Handy nach dem Auszug gab.“
„Wir konnten einige wenige Mitschüler befragen, die alle aussagten, dass Katharina Oberwinkler sehr wohl ein Handy besaß. Wir haben es aber nicht gefunden.“
„Wieso wurden nur einige und nicht alle Mitschüler befragt?“, wollte der Staatsanwalt wissen und alle spürten den vorwurfsvollen Unterton.
„Weil wir hier sitzen, anstatt unserer Arbeit nachzugehen“, maulte Leo, ohne den Staatsanwalt oder den Chef dabei anzusehen. Leo hielt die Besprechung für reine Zeitverschwendung, denn noch waren sie nicht wirklich weit gekommen. Er spürte, dass bei dem Suizid etwas nicht stimmte und wollte herausfinden, ob er richtig lag.
„Das hätten Sie alles längst erledigen können“, pampte Eberwein zurück. „Es wäre genug Zeit gewesen, alle Mitschüler, Lehrer und Freunde aufzusuchen und zu befragen.“
„Die Tote wurde heute früh um sechs Uhr gefunden. Der Leichenfund hatte sich herumgesprochen und es hatten sich trotz der Kontaktbeschränkungen durch das Corona-Virus einige Leute eingefunden, die wir alle befragt haben. Als wir damit durch waren, mussten wir erst die Eltern verständigen, womit Sie hoffentlich einverstanden waren. Wir mussten verhindern, dass die Todesnachricht zu den Eltern durchdringt, bevor wir sie selbst überbringen konnten. Wir haben uns erst um elf Uhr von den Eltern verabschiedet. Jetzt ist es kurz nach dreizehn Uhr und diese Besprechung zieht sich unnötig in die Länge. Wann hätten wir mit den Mitschülern und Lehrern sprechen sollen?“ Leo war außer sich. Diesen Vorwurf musste er sich vom Staatsanwalt nicht gefallen lassen, das war eine bodenlose Frechheit. Während der von allen Kriminalbeamten Unmögliches erwartete, saß er hier und hielt alle nur auf.
„Es wäre Ihr Job gewesen,…“
„Jetzt kommen Sie mal runter!“, schritt Krohmer jetzt ein, der immer wütender wurde. Die heutige Laune des Staatsanwaltes war für ihn nur schwer zu ertragen. „Versuchen Sie, das Handy des Opfers zu finden“, sagte Krohmer so ruhig wie möglich zu Leo.
„Wir sind dabei.“
„Wie gehen Sie jetzt vor?“
„Wir werden alle Schüler und Lehrer befragen. Man wartet auf uns in der Schule.“
„Gut. Versuchen Sie, nochmals mit den Eltern zu sprechen.“
„Selbstverständlich.“
„Gibt es von Ihrer Seite noch etwas?“ Krohmer sah seine Leute an. Ihm war klar, dass der Fall allen an die Nieren ging.
„Ich hätte einen Vorschlag“, sagte Anton Graumaier mit einem Lächeln. Anton, genannt Toni, war zur Aushilfe in Mühldorf. Eigentlich hätte er längst wieder gehen können, aber Krohmer nutzte dessen Anwesenheit aus, um seinen eigenen Leuten Urlaub gewähren zu können. Nachdem die Kollegin Diana Nußbaumer aus Thailand zurück war und auch der Kollege Schwartz einige Tage Urlaub genossen hatte, war jetzt die Leiterin der Mordkommission Tatjana Struck dran, die gemeinsam mit ihrem Freund zwei Wochen in Italien verbrachte. Aufgrund der dortigen Corona-Situation saßen Frau Struck und ihr Begleiter immer noch in Italien fest, da beide immer noch Anzeichen einer Erkrankung zeigten und die Ärzte sie noch nicht entließen. Krohmer hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, beide nach Hause zu bringen, was ihm aber bisher nicht gelang. Wenn Frau Struck wieder zurück war, musste sie sehr wahrscheinlich zwei Wochen in Quarantäne verbringen, was deren Einsatz weiter hinausschob. Nach ihrer Rückkehr war auch für Graumaier die Zeit in Mühldorf vorbei, das wussten alle. Trotzdem mussten sich alle mit der momentanen Situation zurechtfinden, an der sich so schnell nichts ändern würde.
„Bitte, wir hören“, stöhnte Krohmer, der den Neuen nicht wirklich mochte. Er selbst hatte ihn mehrfach dabei erwischt, als er mit Zeuginnen und auch Kolleginnen flirtete, was er nicht guthieß. Graumaier brachte zu viel Unruhe in seine Mordkommission und in die ganze Polizei, was ihm mehr und mehr auf die Nerven ging. Wenn dieser verdammte Corona-Mist endlich vorbei wäre, könnte alles wieder so laufen wie vorher – aber noch war es nicht so weit. Die Lockerungen in Bayern kamen nur zaghaft und es würde noch lange dauern, bis ein einigermaßen normales Leben wieder möglich war.
Auch die anderen stöhnten darüber, dass die Besprechung durch Tonis Unterbrechung noch mehr in die Länge gezogen wurde. Konnte der Typ nicht einfach die Klappe halten?
„Wenn wir keine ausreichenden Informationen bekommen, sollten wir jemanden Undercover in die Schule einschleusen, der sich dann dort umhören könnte.“ Toni sah in die Runde und war gespannt, wie sein Vorschlag aufgenommen wurde. Er dachte natürlich an sich selbst, denn einen Undercover-Einsatz hatte er noch nie machen dürfen und das reizte ihn. Außerdem wäre er dafür geradezu perfekt, denn immer wieder wurde ihm bestätigt, dass er für seine zweiunddreißig Jahre noch sehr, sehr jung aussah.
Leo und Hans lächelten nur, sie nahmen den Vorschlag nicht ernst. Diana sagte nichts dazu. Sie war von dem Anblick des Opfers immer noch geschockt, denn so etwas hatte die Neunundzwanzigjährige noch niemals vorher gesehen. Das junge Mädchen lag völlig verdreht auf dem Pflaster. Das viele Blut hatte sie erschreckt, aber auch die weit aufgerissenen Augen des Opfers, die sie anzustarren schienen, würden sie noch lange verfolgen.
„Das ist doch Schwachsinn!“, rief der Staatsanwalt, noch bevor Krohmer etwas sagen konnte. „Der Suizid des Mädchens ist tragisch und ich bin trotz anderer Ansicht damit einverstanden, dass wir uns um die Umstände kümmern. Das sind wir nicht nur den Eltern, sondern auch der Bevölkerung schuldig. Allerdings handelt sich immer noch um einen Selbstmord und nicht um Mord, das dürfen wir nicht vergessen! Dazu sind wir alle noch mittendrin in der Corona-Krise, aus der wir auch nicht so schnell herauskommen. Wie sollte Ihr Vorschlag in der Praxis aussehen? Es werden vorerst nur die Schüler unterrichtet, die kurz vor dem Abschluss oder einem Übertritt stehen – wie würde da ein Außenstehender dazu passen? Nein, Kollege Graumaier, es wird hier keinen Undercover-Einsatz geben! Ihr Vorschlag in allen Ehren, aber das ist dann doch zu viel des Guten! Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Sie sehen zu viele Krimis und Actionfilme.“ Eberwein lachte über seinen eigenen Witz, aber außer ihm lachte niemand.
Krohmer dachte ähnlich, war aber auch wütend über die Art und Weise, wie der Staatsanwalt mit dem Vorschlag umging.
„Vielen Dank, Kollege Graumaier. Ich habe mir Notizen gemacht und wir kommen eventuell auf Ihren Vorschlag zurück. Bis dahin bitte ich, dass Sie sich alle im Umfeld des Opfers umhören. Ich muss nicht betonen, dass Sie so behutsam wie möglich vorgehen.“
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