„Nur zu, Schriiner von Brunegg mit deiner schönen Schwester“, forderte ihn Berti auf, und die andern nickten und rückten ein wenig zusammen.
„Ich bin der Schriiner Walti“, sagte der Mann zu Otto gewandt. „Und das ist meine Schwester.
„Darf ich Sie Fräulein Renold nennen?“, fragte Otto zögernd.
„Ja, die bin ich“, antwortete sie. „Aber sie dürfen auch Valerie zu mir sagen.“
„Und ich bin der Otto Pfändler, aber für Sie auch einfach der Otto.“
„Er ist einer von uns, vom Disch in Othmarsingen“, erklärte Werner. „Er ist noch etwas schüchtern. Er ist aus Deutschland gekommen.“
„Aber ich bin Schweizer, aus Flawil im Kanton St. Gallen.“
„Das habe ich gar nicht gewusst“, sagte nun Werner. „Entschuldige, aber du redest wie ein Deutscher.“
„Nein, das ist mein St. Galler Dialekt“, wehrte sich Otto. Im Stillen dachte er: „Es mag sein, dass unser Dialekt nicht so unverkennbar ist wie eurer, der nahe am Berner Dialekt ist.“
Als die Musik wieder zu spielen begann, forderte der Schreiner Walti seine Schwester zum Tanz auf. Sie waren ein wunderschönes Paar, und wenn sie auch mitten unter den Tanzenden waren, ragten ihre markanten Köpfe über die Menge hinaus. Der Schreiner hatte zudem einen auffallend dichten, braunen Haarschopf.
Otto war auch nicht klein, und deshalb getraute er sich in der Pause, den Schreiner zu fragen, ob er beim nächsten Tanz seine Schwester auf die Tanzfläche führen dürfe.
„Da brauchst du nicht mich zu fragen, sondern meine Schwester“, antwortete Walti.
Valerie nickte ihm lachend zu, worauf Otto ihr mit einer leichten Verbeugung die Hand reichte, die sie nahm und sich zum Tanz führen ließ.
Valerie, die schönes braunes Haar hatte, war tat-sächlich noch ein wenig grösser als Otto. Doch sie harmonierten sofort gut zusammen.
„Warum kennen Sie meinen Nachnamen, wenn Sie nicht von hier sind?“, fragte Valerie.
„Ich bin am letzten Samstag bei der Schreinerei Ihres Bruders vorbeigekommen“, erklärte Otto, „da hab ich das Firmenschild gesehen. Deshalb hab ich Ihren Nachnamen gekannt.“
„Sie dürfen mich schon Valerie nennen“, erlaubte sie ihm.
Als sie zum Tisch zurückkehrten, dankte Otto seiner Tänzerin. Und sie sagte: „Ich danke Ihnen, Herr Pfändler.“
„Sagen Sie doch Otto. Wollen wir uns nicht du sagen? Ich dachte sowieso, beim Vorstellen wäre es so gemeint gewesen?“
„Eigentlich schon“, bestätigte Valerie, „aber als Frau traut man sich dann doch nicht gleich.“
Als Otto sah, dass Valerie einverstanden war, rief er die Serviertochter herbei.
„Das wollen wir doch mit einem Schluck Wein begießen. Rotem oder Weißem?“, fragte er.
„Lieber Roten“, bat Valerie.
„Dann bringen sie also eine Flasche Roten. Ich denke, sie haben einen Hauswein. Und nur drei Gläser, bitte“, da er beobachtete, dass seine drei Kollegen eben erst wieder Bier bestellt hatten und untereinander die Köpfe zusammensteckten.
Als die Serviertochter die Flasche brachte und die Gläser abstellte, schob Otto eines Valerie und eines ihrem Bruder zu. Das andere zog er zu sich heran. Als eingeschenkt war, stießen die drei miteinander an.
„Ich will ja nicht egoistisch sein“, dachte Otto, weil er den andern keinen Wein angeboten hatte, „ich glaube zwar nicht, dass die andern drei mit Valerie und ihrem Bruder per du sind. Das sollen sie auch nicht werden. Vielleicht bin ich auch schon ein wenig eifersüchtig.“
Otto hatte gesehen, dass ihn Valerie vorher eine Weile mit ihren dunkelbraunen, mandelförmigen Augen aufmerksam betrachtet hatte, und als sie bemerkte, dass sie dabei ertappt worden war, sofort wegsah.
Walti schien gar nicht so viel Lust zum Tanzen zu haben und nickte immer, wenn Otto ihn anschaute und seine Einwilligung einholen wollte.
Einmal sagte sie, während er sie ein wenig näher zu sich heranzog: „Ich habe noch keinen Menschen gesehen, der so blaue Augen hat wie du.“
Otto fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Das hatte bisher in seiner Heimat noch niemand zu ihm gesagt. Nur in Deutschland schienen die Frauen häufiger auf seine Augen zu schauen. Er nahm es von Valerie als Kompliment entgegen und sagte nur: „Danke.“
Als es gegen Mitternacht ging und Walti noch einmal mit seiner Schwester getanzt hatte, sagte er, als sie an den Tisch zurückkehrten zu Otto gewandt: „Entschuldige, wir müssen nun gehen. Es ist Zeit. Weißt du, ich bin für meine Schwester verantwortlich. Unser Vater ist schon vor sechs Jahren gestorben.“
„Das tut mir leid“, sagte Otto.
„Ja, aber“, wandte sie sich lachend an ihren Bruder, „du benimmst dich immer noch wie ein Vater und meinst, mich wie als deine Tochter beschützen zu müssen, und vergisst, dass ich erwachsen geworden bin. Meine Schwestern übrigens auch. Wenigstens das Anni.“
„Die Miggi wohl nicht, die ist doch noch ein Kind“, rechtfertigte sich Walti.
„Vielleicht sehen wir uns wieder einmal“, sagte Valerie an Otto gerichtet.
„Es würde mich freuen“, antwortete er und reichte zuerst Valerie und dann Walti die Hand.
Otto war ein guter und fleißiger Arbeiter und schon bald bei seinem Patron und den Kollegen beliebt. Berti und Otto hatten in kurzer Zeit Freundschaft geschlossen.
Eines Abends, als er nach Feierabend mit Berti im „Pflug“ bei einem Bier zusammen saß, fragte Otto: „Gibt es hier auch eine sozialdemokratische Partei?“
„Bist du ein Sozi?“, fragte Berti zurück. „Willst du der Partei beitreten?“
„Ja“, erwiderte Otto. „Weißt du, ich hab in Deutschland in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mitgemacht. Das ist eine gute Sache. Wir Arbeiter müssen zusammenhalten und für gerechte Löhne kämpfen.“
„Bei uns gibt es das nicht“, sagte Berti. „bei uns im Dorf, wo fast jeder jeden kennt, würdest du schief angesehen. Und der Patron sähe das auch nicht gern. Ich bin zufrieden, wie es ist. Wir müssen ja nicht hungern. Und wenn wir zum Tanz oder zu einem Dorffest ausgehen, reicht das Geld auch noch. Was willst du mehr? In Zürich oder in Basel gibt es sicher eine solche Partei. Aber hier kämst du schlecht an.“
„Dann gibt es auch keine Gewerkschaft?“, fragte Otto weiter. Berti schüttelte nur den Kopf.
„Würdest du mitmachen, wenn ich eine Partei gründen würde?“, wollte Otto wissen.
Berti lachte: „Ich mag dich, Otto. Aber eine Partei gründen? Nein. Hier sind nur die Bürgerlichen und die Katholischen in Parteien, die Bürgerlichen bei den Liberalen und die anderen in der katholisch-konservativen Partei.“
„Vielleicht gehe ich später einmal nach Zürich oder besser noch nach St. Gallen, da bin ich dann näher bei meinen Eltern“, sagte Otto. „Dort werde ich sicher der Partei und der Gewerkschaft beitreten.“
„Hast du auch Geschwister?“, fragte Berti.
„Ja, einen älteren Bruder und einen Bruder und eine Schwester, die jünger sind als ich.“
„Ich habe leider keine Geschwister, und meine Eltern wohnen in Bözberg“, ließ Berti seinen Freund wissen.
Otto sagte nichts mehr. Nach einer Weile unterbrach Berti das Schweigen: „Du kommst doch am Samstag mit nach Schinznach. Wir müssen aber früh gehen. Es ist ein Dorffest, das schon am Morgen beginnt.“
Ja, er komme gerne mit, sagte Otto. Vielleicht würde ja der Schriiner Walti mit seiner Schwester auch wieder dabei sein.
Ja, den Walti trafen sie, als sie sich am Samstagnachmittag zwischen den vielen Leuten hindurchzwängten, die von der einen Seite zur andern über die enge von den Verkaufsständen gebildete Gasse wechselten, und da und dort etwas kauften oder auch nur gafften. Es roch nach frischem Brot und geräuchertem Fleisch, da standen Schuhe zum Kauf, dort hingen Kleider oder Schirme und Handtaschen für die Frauen. Otto hatte schon lange herumgespäht. Walti und Valerie wären doch leicht zu erkennen. Ihre Köpfe würden über alle anderen hinausragen.
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