„Da unten ist ja plötzlich lauter Wasser“, bemerkt Zicke nach einer Weile erstaunt, worauf einer der Schüler sie belehrt: „Das ist die Wupper.“
„Menno! – Ick hätt’ dat glatt für die Havel gehalten ...“ – Die beiden Jungen grinsen nur, da sie mit der Antwort nichts anzufangen wissen. Havel? Wer oder was soll das denn sein? – Immerhin beäugen sie ihr Gegenüber jetzt etwas forscher; die Elfjährige ist für ihr Alter recht weit entwickelt. Zicke bemerkt das Fixieren und erneute Getuschel und weiß genau, dass sie der Anlass dazu ist.
Als die Bahn in der nächsten Kurve wieder bedenklich quietscht, meldet Paule Zweifel am zuvor Gelernten an: „Und det Hängeding hier soll wirklich die sicherste Bahn von die Welt sein!?“
„Ist sie gar nicht“, meldet sich einer der Schüler und zeigt nach unten. „Erst vor ein paar Jahren ist hier eine Bahn abgesegelt ... Da unten hat sie gelegen – mitten in der Wupper –viele Tote und Verletzte.“
Opas Gesicht wird kreideweiß. Der vorlaute Schüler bemerkt es und setzt noch einen drauf: „Immer nach oben gucken, wenn’s einem schlecht wird. Dort zu dem roten Griff. Aber nicht dran ziehen, sonst wird die Bahn ausgeklinkt und fällt runter. Das ist nämlich für den Notfall, wenn plötzlich mal eine Bahn entgegenkommt.“ – Im allgemeinen Gekicher nimmt Opa das zwar nicht ernst, schaut aber dennoch wie gebannt auf den roten Griff. Als eine Frau dem ominösen Griff sehr nahe kommt, entfährt es ihm ungewollt: „Vorsicht!!“ – Verlegen schaut er zu Boden, während alle um ihn herum spöttisch lachen.
„Dir kann man auch jeden Scheiß inne Birne kloppen, wa’...?“, lästert Zicke, während sich Opas Gesicht ob dieser Ausdrucksweise versteinert. Die Solidarität im Gespött ermutigt einen der Jungen, mit seinem Fuß in Kontakt zu ihrem Fuß zu treten. Als sich seine Fußspitze auf halber Höhe ihrer Wade befindet, tritt sie ihm sehr unsanft gegen das Schienbein. Der alte Abstand ist wieder hergestellt. Bevor der so abgewiesene Knabe jedoch an der nächsten Station aussteigt, meint er mit weltmännischer Überheblichkeit: „Dir entgeht noch ’ne Menge Spaß im Leben, wenn du weiter so auf verklemmt mimst.“
Zicke ruft daraufhin laut und ärgerlich: „Mensch, haste sonne Probleme?! Koof dir doch ’n Magazin von unterm Ladentisch und schließ dir damit im Klo een!“ – Gelächter, Entsetzen, fragendes Aufhorchen, Kopfschütteln. Opa blickt in die Runde der Fahrgäste; langsam dämmert ihm der Sinn dieser Worte. Die Blässe in seinem Gesicht weicht tiefer Schamesröte. Er will weg vom Ort dieser Peinlichkeit. „Darüber reden wir noch“, faucht er erbost. „Und gleich steigen wir aus. Schluss jetzt!“
Der nächste Halt ist ‚Zoo’. Opa schubst - innerlich kochend vor Zorn - seine Enkelin auf den Bahnsteig, um ihr eine gehörige Standpauke zu halten. Sie aber schaut ihn nur verwundert an und fragt unbekümmert: „Kann ick mal dein Handy haben. Ick muss unbedingt janz dringend mal telefonieren.“ Handy?! Opa hat kein Handy, und so etwas braucht Opa auch nicht. Was soll diese Göre wohl auch Wichtiges zu telefonieren haben!? Die Ohren möchte er ihr lang ziehen!
„He – wo is’ ’n der Paule?“, fragt Zicke plötzlich. Und dann schauen beide ratlos der davonfahrenden Schwebebahn nach. Opa wechselt erneut die Gesichtsfarbe, nun in ein blasses Grauweiß, taumelt zu einer Bank und sinkt wie ein geschlagener Krieger darauf nieder. Ein kleiner Junge aus dem fernen Berlin in einer völlig fremden Stadt, allein gelassen fünfzehn Meter über der Wupper in einer hängenden Bahn ... Und das alles, weil er einen Augenblick nicht aufgepasst hat! Opa schlägt die Hände vors Gesicht und wäre am liebsten gestorben.
„Menno, Oppa“, versucht Zicke ihn zu trösten, „der Paule ist schon alleene mi’m Flieger jeflogen. Der kommt janz von selber wieder an Land.“
Nein, so schnell ist Opa nicht zu beruhigen. Als er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, verkündet er eine Strategie: „Du bleibst hier und rührst dich nicht von der Stelle! Und halt die Augen offen, falls dein Brüderchen zurückkehrt. Ist das klar?“ Zicke nickt. „Ich gehe jetzt zur Polizei.“ Schon macht sich Opa auf den Weg. Auf der Straße lässt er sich von Passanten erklären, wo die nächstgelegene Wache ist. Eine Antwort scheint nicht so einfach, denn die Passanten bilden zu dem Thema erst mal eine eifrige Diskussionsgruppe. Schließlich erfährt Opa: der schnellste Weg geht nach links, aber noch schneller geht’s eigentlich rechts herum. –
Eine halbe Stunde irrt der alte Mann vergebens durch die Stadt, geplagt von schrecklichen Vorstellungen über das Schicksal des armen kleinen Paule. Schließlich sieht er einen Streifenwagen der Polizei, springt wild gestikulierend auf die Fahrbahn und schmeißt sich dem Auto geradezu entgegen. Nach einer Vollbremsung bringt ihn die aufgebrachte Besatzung zwecks Aufnahme eines Protokolls erst mal zur Wache.
„An welcher Station haben Sie denn das Kind verloren?“, möchte der Polizeibeamte hinter der Schreibmaschine wissen. Opa hat nicht drauf geachtet. Er weiß nur, dass tief unten die Wupper fließt und muss sich belehren lassen, dass dies fast auf der ganzen Strecke der Fall ist. -
Paule ist den Tränen nahe. Ihm gegenüber sitzt noch der dritte von den Jungen, die mit ihnen in Vohwinkel eingestiegen waren. Er hat das ganze Drama miterlebt und fühlt sich nun als Einheimischer zur Hilfe berufen. „Ich bin der Jens“, sagt er. „Wir finden die anderen schon wieder. – An der nächsten Station steigen wir aus und fahren zurück. Man muss nämlich immer zu dem Punkt zurückkehren, an dem man sich verloren hat, woll. Alte Pfadfinder-Regel.“
Gesagt – getan. Auf der Rückfahrt ist Paule bald wieder voller Zuversicht und erklärt stolz, aus Berlin zu sein und das sei sogar die Hauptstadt von ganz Deutschland. „Aber ein Bundespräsident stammte hier aus Wuppertal“, entgegnet Jens voller Stolz. „Und der ist der Allerhöchste in Berlin und so.“
„Ne, der Größte is’ der Adenauer, sagt Papa immer“, wirft Paule ein. Da Jens mit dem Begriff ‚Adenauer’ nichts anzufangen weiß, wechselt er das Thema und erkundigt sich –nebenbei, aber doch recht detailliert – nach Paules Schwester.
Freudiges Wiedersehen am Bahnhof Zoo in Wuppertal. Zicke hat hier brav ausgeharrt. Nun sitzen die Kinder zu dritt auf der Bank und warten nur noch auf Opa. Aber Opa kommt und kommt nicht.
Jens zückt sein Handy und sagt zu Hause Bescheid, dass er wegen eines wichtigen Hilfsprojektes erst später komme. Zicke zögert eine Weile, ehe sie zu fragen wagt, ob sie wohl auch mal telefonieren dürfe. Klar darf sie, obwohl Jens bald sauer dreinschaut, da das Mädchen offenbar mit einem sehr guten Freund namens Ingo plaudert. Aber bald ist die Welt für ihn wieder in Ordnung, für Zicke hingegen wohl kaum, als er sie sagen hört: „Wie - ihr liegt am Strand - in Dänemark? Was – mit wem? Mit Pernille? Soll det ’n Name sein oder wat is’ det für ’n Kraut? ... Neue Freundin? Dänische Superfrau?! ... Hör mal! ... Wie – aus? Wat is’ aus? Det mit uns? Nach all die Zeit? ... Und du mir schon lange!“ Sie beendet das Gespräch, um wütend sofort eine SMS an die gleiche Adresse abzusetzen. „Du Arsch!“, steht auf dem Display.
Jens findet diese Ausgangsposition für sich gar nicht so übel, um nach einer Weile behutsam mit ein paar netten Worten ein Gespräch zu beginnen. Schließlich darf er sogar Zickes Telefonnummer in seinem Handy abspeichern. Der zarte Small-talk lässt die Zeit wie im Fluge verstreichen. Nur Paule langweilt sich und gähnt fortwährend. Wo nur der Opa bleibt?
Zur gleichen Zeit rät ein Polizeibeamter dem verzweifelt wartenden Opa, nach Vohwinkel zurückzufahren und mit seinem Auto die Heimreise anzutreten. Man werde die Kinder schon finden und nach Hause bringen. – Der dritten Aufforderung dieser Art folgt der alte Mann schließlich sorgenvoll. Ein Beamter geleitet ihn zur Schwebebahn. „Fahren Sie einfach bis zur Endstation. Dann sind sie dort, wo sie auch eingestiegen sind“, sagt er noch, als sich der Zug auch schon in Bewegung setzt. –
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