Die nicht gerade überschäumende Fantasie ihrer Eltern bei der Namensgebung zeigte sich vollends bei der Taufe ihres kleinen Bruders, dem der Name „Paul“ aufgedrückt wurde; heute wird er nur „Paule“ gerufen. Ist von beiden Kindern die Rede, spricht man nur von PP oder von den Paulanern. Nur Oma und Opa reden in sauerländischer Korrektheit noch von Paul und Paula, - weil das ja so schöne christliche Namen sind. -
Zicke ist gerade elf geworden, Paule ist fünf und wartet sehnsüchtig auf seine Einschulung, um den ewigen Vorwurf los zu werden, eine vernünftigere, klügere Schwester zu haben. Doch nun sind erst mal Ferien. Am anderen Morgen verlädt Papa die beiden in sein Auto. Ab geht’s über die Autobahn in Richtung Westen. Und während andere Kinder sich schon im Landeanflug auf Mallorca befinden, nerven die PPs in schöner Regelmäßigkeit mit der Frage, wann sie denn nun endlich da seien. – Paule besteht schließlich darauf: „Ick will als erster bei Oppa auf seine Kuh reiten!“
Papa verbringt einen Teil der Fahrt damit, den Kindern die Realitäten des Sauerlandes näher zu bringen. Paule muss begreifen, dass sie zwar nach Westen, aber keinesfalls in den Wilden Westen fahren und dass das Sauerland nicht unmittelbar neben Texas liegt. Es gäbe bei Oma und Opa folglich keine Kühe, Pferde, Schweine, Ziegen oder Hühner, - nur „Molli“, den altersschwachen Chow-Chow. Eine Disco sei auch nicht am Ort, auch kein Kino, - aber Tropfsteinhöhlen und vor allem wunderschöne Wälder, die zu Wanderungen und Spaziergängen in frischer, gesunder Luft einlüden.
„Könn’ wa nich’ mit dir wieder nach Berlin zurück? – Bitte ...!“ In diesem Wunsch sind sich die beiden Paulaner angesichts solcher Aussichten sofort einig. Da es leider keine Autobahnausfahrt „Oberholzklau“ gibt und auch die Ausschilderungen auf den Landstraßen in dieser Hinsicht eher dürftig sind, macht Papa unfreiwillig eine kleine Sauerlandrundreise mit zahllosen Unterbrechungen, um unschuldige Passanten nach dem Weg nach „Oberholzklau“ zu befragen. „Oi – jei“, so beginnt meist die wenig hoffnungsvoll stimmende Antwort.
Ein Mopedfahrer schließlich zeigt sich kundig. Er wisse genau, wie man dahin kommt. „Aberrr“, fügt er mit dem rollenden R des Siegerländers hinzu, „eine Beschrrreibung nützt da nichts – das finden Sie nie!“ Und obwohl Zicke darob höchst unfein mit verdrehten Augen ein typisches Kotzgeräusch von sich gibt, bietet sich der Mann an, vorweg zu fahren. Der Vorschlag wird dankbar angenommen, und so zuckelt Papa hinter dem Moped her, stochert nervös zwischen dem ersten und zweiten Gang hin und her, als es durch Kurven und über Steigungen geht, die das Zweirad vor ihnen kaum zu schaffen scheint.
„Is man juut, wenn man so’n schnellen Schlitten hat“, lästert Paule, und Papa unterdrückt mühsam ein Wutgeheul. Doch irgendwann erreicht man Oberholzklau und das schmucke weiße Hanghäuschen von Oma und Opa. Vor dem Aussteigen erinnert Papa eindringlich an die getroffenen Benimm-Vereinbarungen, ehe die Paulaner die herzliche Begrüßung mit nassen Schmatzern – und eiligem Wegwischen – zwar leidend, aber tapfer schweigend über sich ergehen lassen. Der Rest des Tages verläuft in harmonischer Ruhe, die beiden Kinder sind hundemüde. Letzter karger Dialog des Tages, als beide schon in ihren Bettchen liegen: „Na, wie find’sten det hier?“, ertönt die traurige Frage.
„Jenau so“, lautet die noch traurigere Antwort. -
Am anderen Tag fährt Papa nach Berlin zurück; die Vorfreude auf einige ruhige Stunden Autofahrt ist ihm beim Frühstück überdeutlich anzumerken. Zicke besteht darauf, mit Oma zum Ortseingang zu wandern, um – zur Sicherheit gleich mehrmals – das Ortsschild „Oberholzklau“ zu fotografieren, - als Beweismaterial für Ingo und all die anderen Ignoranten in Berlin. Dann geht es zum Einkaufen im einzigen Laden am Ort. „O je“, stöhnt Paule, „so sah det früher bei Bolle aus.“ – Mit Süßigkeiten nach freier Wahl kann Oma die Stimmung erst mal retten.
Dann bricht für die Kinder die Hölle herein! Jedem menschlichen Wesen im Dorf, das ihnen begegnet, werden PP vorgestellt, müssen artig Händchen geben, während Oma voller Stolz Lobeshymnen über ihre braven intelligenten, fleißigen Enkel aus der Hauptstadt vom Stapel lässt. Zicke zieht eine immer längere Flappe, Paule jammert, er wolle nach Hause, und als das alles nichts fruchtet: „Oma, ich muss mal ...!“ – Zu Hause backt Oma Kuchen mit den Kindern, geht anschließend mit ihnen auf den Spielplatz, wieder zu Hause spielt man „Mensch ärgere dich nicht“, dann Mittagessen, und danach ist Ruhe angesagt, weil Opa sein Mittagsschläfchen hält. Nicht mal den Fernseher darf man zu dieser Stunde einschalten. Also betätigt sich Oma als flüsternde Geschichtenerzählerin. So schleichen die Stunden dahin. Am Abend ist Oma völlig abgeschlafft und verdonnert Opa, sich am nächsten Tag um die Kinder zu kümmern. „Fahr mit ihnen irgendwohin, an die Biggetalsperre oder zum Kölner Dom oder nach Wuppertal zur Schwebebahn, - ja das ist doch etwas, das es in Berlin nicht gibt – die Schwebebahn!“ – Opa nimmt seufzend ein Lexikon aus dem Schrank, um sich über die Geschichte der Schwebebahn zu informieren. Daraufhin studiert er eine Straßenkarte; er war selber noch nie in Wuppertal.
Am Morgen packt Oma für die Expedition der drei einen Verpflegungs-Rucksack mit Broten, Kartoffelsalat, hartgekochten Eiern und Getränken. Sie winkt noch, und schon geht’s los in Opas nagelneuem Opel quer durchs schöne Sauerland. Opa meidet Autobahnen; Raserei liegt ihm nicht. Nun kann er seinen gähnenden Enkeln in aller Ruhe Lüdenscheid, Hückeswagen, Wipperfürth und Remscheid zeigen. Paule aber lenkt vom heimatkundlichen Vortrag unvermittelt ab: „Bist du eigentlich Mamas Papa oder Papas Papa?“ – Opa ist Papas Papa. Da seufzt Paule: „Na, denn weeß ick ja, bei wem ick mir noch bedanken muss.“
„Wofür denn bedanken?“, möchte Opa wissen.
„Det mein Pa früh jenug hier ausjewandert is’“. Opa vermag nicht zu antworten, denn eine kleine Serpentine, die hinab ins Tal der Wupper führt, beansprucht seine ganze Aufmerksamkeit. Dann ist er in der Stadt; das Schicksal scheint ein Einsehen zu haben und schenkt ihm sogleich einen freien Platz am Straßenrand, der sich vortrefflich zum Parken eignet. Bald stehen die drei auf einer ganz normalen Stadtstraße. Links und rechts mehrstöckige Häuser. In der Mitte der Straße, in halber Höhe der Häuser, zieht sich ein stählernes Ungetüm dahin: das mächtige Gerüst der Schwebebahn. Donnernd und quietschend braust auch schon der erste Zug über ihnen vorbei.
Opa ist fasziniert von der Technik; zum ersten Mal erblickt er dieses sagenhafte Bauwerk. Zicke schaut misstrauisch drein und fragt respektlos: „Det is’ die Schwebebahn?! So so. Watt schwebt ’n da eigentlich?“
Paule hat die Lösung parat: „Mensch, det is’ doch nur ’ne uffgehängte U-Bahn, weiter nüscht.“
Zicke hat eine weitere Frage: „Fährt die ooch im Winter oder nur jezz im Sommer, weil Kirmes is’ oder sowat Ähnliches?“ Opa erklärt, dass die Schwebebahn ganzjährig fährt und das Hauptverkehrsmittel der Stadt Wuppertal ist. Wieder kreischt ein Zug über ihnen daher. Nun schaut Opa ganz genau zur Fahrgastkabine hinauf und ist nicht mehr so sicher, dass er da wirklich einsteigen möchte. Aber versprochen sei versprochen, mahnen die Kinder. Und während sie die Stufen zum Bahnhof Vohwinkel emporsteigen, verspürt Opa leichtes Unbehagen und Herzklopfen.
Jeder der drei hat einen Fensterplatz ergattert. Gerade steigen noch drei Schuljungen zu, dreizehn oder vierzehn Jahre alt mögen sie sein; zwei davon sitzen Zicke gegenüber und haben augenblicklich etwas zu tuscheln. Die Türen fallen zu. Der Schwebebahnzug fährt los. Opa hält Ausschau nach einem Haltegriff. Links und rechts jagen die Fenster der Häuser vorbei, während auf der Straße unter ihnen normaler Autoverkehr herrscht. Dann legt sich die Bahn etwas zur Seite, es quietscht, die erste Kurve wird durchfahren. Opa verspürt ein unangenehmes Gefühl im Magen; vielleicht sollte er etwas essen und kramt eines von Omas Broten aus dem Rucksack.
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