Hin und wieder veranstaltete sie “Musikabende”, zu denen alle ihre Schülerinnen und Schüler und auch deren Eltern eingeladen wurden. Jeder ihrer Zöglinge musste irgendetwas auf den schwarzen und weißen Tasten zum Besten geben. Ein grausames Unterfangen; denn für mich war dies stets ein erzwungener Blamage-Akt.
Fräulein R. betätigte sich dabei auch als Musik-Pädagogin und berichtete salbungsvoll von großen deutschen Komponisten. Irgendwann fiel mal der Name “Chopin”. Fräulein R. reagierte ärgerlich, sprach von verklemmten Fingersätzen, unerlaubten Dehnungen und slawisch “undeutscher” Melodik. Das tausendjährige Reich ließ hier offenbar grüßen. Dieser Chopin – so schien es mir - musste jedenfalls ein ganz schlimmer Finger gewesen sein. Zufällig erfuhr ich wenig später durch Lange-Ohren-Machen bei einer Unterhaltung Erwachsener, dass Fräulein R. Klavierlehrerin wurde, nachdem sie ihr Konzert-Examen nicht geschafft hatte. Als Pflichtteil hatte auf dem Programm die erste Etüden-Reihe op. 10 von Frederik Chopin gestanden.
Klasse, dieser Chopin! , dachte ich. Ist man selbst ein Versager, - gibt’s dann Erhebenderes als zu erfahren, dass die große Klavierquälerin selbst eine Versagerin war? - Und so eine Versagerin sollte mir etwas beibringen?! - War ja wohl ‘n Witz! Immerhin, mit dieser Motivation und zähem Ringen schaffte ich es, dass mich meine Eltern vom Klavier-Stress schließlich erlösten. Ein Fortschritt war ja weder zu erkennen noch zu erwarten.
Ich brauchte künftig auch weder Bekannten noch Verwandten, die zu uns zu Besuch kamen, auf dem Pianoforte etwas vorzustümpern. Allerdings geisterte da immer eine ganz andere Frage durch den Raum: „Wie macht sich der Junge denn in der Schule, und was soll er eigentlich später mal werden?“
Was soll er mal werden ... Selten, dass ich mal gefragt wurde, was ich denn mal werden möchte . Mein Vater hatte längst beschlossen, ich müsse ins Kaufmännische gehen. Kaufleute würden immer gebraucht, und ich sei ja auch ganz gut im Rechnen.
Mit dem Kaufmännischen verband ich das Feilbieten von Gurken, Stangeneis, Postwertzeichen, Maisbrot, Schnittblumen und Schulartikeln. Wahrhaft wenig aufregende Tätigkeiten! Auf der Penne war damals neben Latein mein schwächstes Fach ausgerechnet Deutsch. Zwar rettete ich meine Zensur durch nahezu fehlerfreie Diktate immer über die kritische Grenze, erlebte mit meinen Aufsätzen aber meist ein Desaster, - dank Studienassessor Fleischhauer. Von ihm soll später noch die Rede sein. Ihm missfiel damals die unkonventionelle Art, in der ich die von ihm gestellten trivialen Aufsatzthemen abhandelte.
Eines Tages dann die Götterdämmerung: Im neuen Schuljahr wurde der alte Fleischhauer durch den jungen Deutschlehrer Körber abgelöst, der die ganze Klasse mit neuartigen Aufsatzthemen irritierte. „Glas“, schrieb er einmal an die Tafel, und wir sollten schreiben, was uns dazu einfiel. Nachdem ich in den folgenden Wochen und Monaten meist den besten Aufsatz schrieb, meinte Körber irgendwann mal – vermutlich nur scherzhaft – zu mir: „Du könntest glatt Schriftsteller werden.“
Jawohl! Das war’s doch, - Schriftsteller! Der Vorschlag wurde von mir sofort akzeptiert und stolz meinen Eltern unterbreitet. Doch welch eine himmelschreiende Ignoranz! Wovon ich denn leben wollte? Am Hungertuch würde ich nagen und im Armenhaus landen. Auf dem nackten Fußboden müsste ich schlafen zwischen Ratten und Trunkenbolden. Nein, erst was Ordentliches lernen! Schreiben könnte ich ja nebenbei immer noch ... Und so geschah es auch. -
„Eigentlich schade“, bedauerte Luise. „Ich wollte früher zum Film. Durfte ich auch nicht. Musste stattdessen Psychologie studieren. C’est la vie.“
Peter konnte sich dazu eine Bemerkung nicht verkneifen: „Und darunter hab’ ich heute zu leiden. Die Psychologin durchschaut mich, und die Schauspielerin macht mir währenddessen was vor.“
„Kondolenz beim nächsten Mal“, erwiderte ich lachend. „Alles halb so schlimm: Schriftsteller wollte ich werden und wäre beinahe Pianist geworden. Kaufmann sollte ich werden und wurde schlussendlich Elektro-Ingenieur. Nun bin ich Ruheständler und fang noch mal ganz von vorne an, - eben als Schriftsteller. Man muss sich im Leben halt durchsetzen, früher oder notfalls auch später ...“
„Dann lies uns mal was vor aus deinen Werken, - diese neue Wuppertal-Geschichte zum Beispiel.“ Vorlesen? War ich etwa hier der Märchenonkel? Doch Luises strenger Blick erstickte in mir jedes Widerwort; denn ich erinnerte mich zugleich an das letzte Mal, als ich Luise irgendwie mit irgendetwas geärgert hatte. Die vorzügliche Köchin kredenzte mir nämlich bei der nächsten Einladung zu einem köstlichen Schweinerollbraten feines Gemüse , diese schaurig schleimige Mischung aus Erbsen, Möhren und Dosenspargel – bösartigerweise Leipziger Allerlei genannt -, und als Beigabe servierte sie quietschsauren Gurkensalat. Damit hatte sie voll ins Schwarze getroffen. Solche Qualen wollte ich nicht noch einmal erleben, also las ich lieber ...
Sommer 2005, und dahin sind sie, - die Träume von Gambas, Sonne, Sand und Meer auf Teneriffa! Aus zerplatzten Vorfreuden bleibt nur ein Trost: die Reiserücktrittsversicherung. Ach, die Lehmanns hatten alles schon bis ins Kleinste geplant und eingekauft: von der Sonnenmilch bis zum Reiseführer. Und nun das! Papa arbeitslos ... Firma pleite. Unsicherheit, Angst und Sorgen erfüllen die Eltern; doch die Kinder sollen nichts davon merken. Teneriffa muss halt verschoben werden, weil Papa „wichtige andere Termine hat“. Aber Oma und Opa würden sich bestimmt riesig freuen, wenn die süßen Enkelkinderchen die Ferien bei ihnen im Sauerland verbrächten. Immer wieder hatten sie dies angeboten, ja geradezu darum gebeten. Jetzt ist ein günstiger Zeitpunkt gekommen, die beiden Kinder für ein paar Wochen bei den Großeltern zu parken.
Und so kommt der letzte Schultag einer Berliner Klasse vor den Sommerferien. ’Es ist immer so gewesen: Am letzten Tag wird vorgelesen!’ steht wie üblich an der Tafel, doch stattdessen bietet die Lehrerin, Frau Hasenbein, eine Plauderstunde über die Ferienziele ihrer Zöglinge an. Portugal, Mallorca, Österreich, Malediven, Schweden, Italien, Spanien, Mexiko, - so hört man die Klasse in kindlicher Vorfreude durcheinander rufen, bis eine Mädchenstimme für allseitiges Erstaunen sorgt: Sauerland ...! Wie – was? Wie war das? – Sauerland?? - Das schreit nach Aufklärung. Und Zicke, wie diese kleine Sauerland-Exotin hier genannt wird, sagt, sie werde die Ferien mit ihrem kleinen Bruder bei „Omma und Oppa“ eben im Sauerland verbringen. Grund genug für Frau Hasenbein, zehn Minuten Erdkunde-Unterricht über das nahe und doch so ferne Sauerland zu erteilen, um dann zu fragen, wo denn Oma und Opa dort genau wohnen.
Zicke hebt bedauernd die Schultern, als wüsste sie es nicht. Dabei kennt sie den Namen des kleinen Ortes sehr genau, mag ihn aber nicht nennen, - mit gutem Grund. Denn Ingo, ihr derzeitiger Kinderlebensabschnittsgefährte, - also dieser Ingo hatte sie das auch gefragt, und sie hatte wahrheitsgemäß geantwortet: „Oberholzklau“. Da hatte Ingo ihr nur den Vogel gezeigt und gemeint: „He, verarschen kann ick mir alleene.“
Überhaupt dieser Ingo ... Der war Schuld daran, dass sie sich von allen widerspruchslos „Zicke“ rufen ließ. Immer noch besser, als mit richtigem Namen angeredet zu werden. Denn als sie Ingo nach langem Zögern verraten hatte, dass sie in Wahrheit „Paula“ hieße, da hatte der rotzfrech gegrinst und kopfschüttelnd gemeint: „Denn nenn ick dir doch lieber Zicke.“ – Zicke sei ja auch nicht so schlimm; erst Adjektive wie olle Zicke, blöde Zicke oder kleene süße Zicke drückten den Grad der Wertschätzung aus. Aber Paula? Nee, das wär’ für sich alleine schon ’ne Katastrophe!
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