„Na gleich morgen in der Spedition. Heut werde ich mir noch überlegen, was ich antworte!“ „Super. Wann hast du Feierabend?“ Tina sagte es ihm verwundert. „Okay, dann hol ich dich ab und bring den Brief danach sofort zur Redaktion, einverstanden?“ „Das wär toll“, rief sie begeistert. „Sehr geehrte Damen und Herren der Redaktion“, begann Martina auf ihren Block zu schreiben. Sie saß unten in Tante Charlottes Stube, weil sie dort die Ruhe zum formulieren ihres Textes fand. Martina strich den Begrüßungssatz wieder durch. So begann man keinen Leserbrief! Sie setzte den Stift erneut an: Ihre Kritik über das Beatkonzert hat mich sehr verwundert, weil ich Journalisten bisher für neutral eingestellte, aufgeschlossene Menschen hielt, die sich niemals im Ton vergreifen. Der Musikgeschmack ändert sind aber offensichtlich Vorurteile nicht. Man kann doch nicht so weltfremd sein und wegen einer Handvoll Jugendlicher alle anderen Konzertbesucher über einen Kamm scheren! Gehen nicht bei anderen öffentlichen Veranstaltungen auch mal Tische oder Gläser zu Bruch? Gab es Schlägereien oder Verletzte? Nein! Ich denke, dass der Etat der Stadt nicht überstrapaziert wurde, im Gegenteil. Was hat man denn für uns, die wir nun mal die Beatmusik so sehr lieben wie andere die Blasmusik, bisher getan? Sehen Sie sich ruhig um. Glauben Sie, dass im Zeitalter des Radios und Fernsehens die Veränderungen an der Stadtmauer abprallen? Es gab und gibt in jeder Generation schwarze Schafe und nur weil wir Beatmusik lieben, gehören wir noch lange nicht dazu! Wenn Sie das nächste Mal im feinen Stadtpark-Café zu Ihren Lieblingsklängen tanzen, denken Sie bitte an uns. Denn für uns gibt es keinen Platz dafür! Wow, dachte Martina, das hat was. So lass ich es stehen! Später zeigte sie Elisabeth ihr Werk, sie brauchte unbedingt ein Echo! „Du willst das wirklich in die Zeitung bringen?“, fragte diese sie mit gemischten Gefühlen. Sie kannte Martinas ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, doch was würde sie schon erreichen? Noch nie war Martina gern so früh aufgestanden wie am nächsten Morgen. Sie fühlte sich beflügelt wie lange nicht mehr. Statt in der Pause mit Herrmann im Aufenthaltsraum eine Zigarette zu rauchen, hämmerte sie in der Telefonzentrale bei Frau Engelbrecht in die Tasten einer uralten Schreibmaschine. Pünktlich um Zwei erschien Wolfgang, zur Verwunderung Frau Engelbrechts und Herrmanns, der mit pikiertem Gesichtsausdruck durch die Trennscheibe glotzte. „Servus dann, bis übermorgen“, verabschiedete sich Martina, betont fröhlich in die Runde winkend. Insgeheim bedauerte sie, nur ein kurzes Stück mit Wolfgang zusammen gehen zu können, weil sie bald in ihren Abkürzungspfad einbiegen musste. Ausgerechnet heute hatte ihre Mutter etwas vor und sie sollte ein Auge auf Ursel haben! Wolfgang blieb unterwegs stehen und las Martinas Leserbrief durch. „Mei ist der guat“, entfuhr es ihm in reinem Münchner Dialekt, „Respekt Tina. Die werden sich wundern!“ „Meinst wirklich?“, fragte Tina glücklich. Sie hätte noch viel mehr getan, um ihm zu imponieren! Wolfgang nickte. „Spitzenmäßig. Also, ich liefere ihn gleich in der Redaktion ab und treffe mich dann mit Rena!“ Er reichte ihr die Hand. Sie wollte ihn noch nicht so schnell gehen lassen. Außerdem strampelte Herrmann gerade auf seinem Fahrrad an ihnen vorbei und schielte zu ihnen herüber! „Arbeitest du eigentlich irgendwo?“, fragte sie Wolfgang. Der zog überrascht die Brauen hoch und schüttelte, etwas verlegen fast, seine braune Mähne. „Ich bin ja erst seit vier Wochen hier und hab noch nichts gefunden, aber ein wenig Gespartes hab ich noch“, antwortete er. „So“, machte Tina und ohne zu überlegen sprudelte es aus ihr heraus, „soll ich mal bei uns in der Spedition nachfragen? Im Lager suchen sie immer mal wieder jemanden, ich meine, falls du sowas machen willst. Du müsstest halt in der Früh anfangen. Vielleicht kannst du ja auch eine andere Arbeitszeit aushandeln. Tagsüber kommen auch einige LKW´ s an, die auf- oder abgeladen werden müssen!“, redete sie sich in Eifer. Wolfgang dachte nach. In seinem Gesicht arbeitete es. „Das würdest du für mich tun? Ja, wenn das ginge, tät ich´s schon machen!“ Tina freute sich. „Klar doch, ich gebe dir dann Bescheid, gell?“ „Danke Tina, du bist klasse. Aber jetzt muss ich los. Servus dann!“
Martina schwebte geradezu nachhause. Sie fand das Leben wieder schön und aufregend. Daran konnte auch die fade Kleie-Pampe nichts ändern, die sie später tapfer herunterschlang. Man konnte ja so Vieles erreichen, wenn man nur wollte!
Währenddessen war Wolfgang Hartmann auf dem langen Weg in die Innenstadt unterwegs. Wie seltsam sich doch alles für ihn entwickelt hatte! Er hatte überhaupt nicht vorgehabt, lange in dieser Stadt zu bleiben. Mit seinem Vater hatte er sich vor einem halben Jahr überworfen. Der war alles andere als begeistert gewesen, dass sein Sohn sein Jurastudium hinschmiss und nicht zu wissen schien, welchen Weg in die Zukunft er einschlagen wollte. Wolfgang hatte darauf bestanden, wenigstens ein Jahr Auszeit zu nehmen. „Du wirst schon sehen, wo das hinführt“, hatte sein alter Herr nach dieser Eröffnung losgepoltert, „glaub ja net, dass ich dich dabei unterstütz! Ich halt´ doch keinen Gammler aus!“ Die Mutter war nachsichtiger gewesen und hatte ihm heimlich tausend Mark zugesteckt. Da er die Münchner Szene nur zu gut kannte und die Mieten rasant stiegen, ging er nach Nürnberg. Er war dorthin getrampt mit nur einem Koffer, voll mit dem Nötigsten. Die ersten Tage hatte er in der Bahnhofsmission übernachtet, bis er ein billiges, möbliertes Zimmer fand. Es lag in der Nähe des Rotlichtviertels bei der Burg. Wolfgang hatte sich hauptsächlich vom Schnellimbiss ernährt, seine Wäsche im Waschsalon gewaschen und sich nur eine schicke neue Schlaghose gegönnt, denn trotz allem wollte er gepflegt aussehen. Oft unternahm er Streifzüge durch die wie Pilze aus dem Boden schießenden Clubs. In einem davon hatte er sich mit einem etwa gleichaltrigen jungen Mann angefreundet. Werner stammte aus Kulmbach und spielte in jenem Live-Club mit seiner Band. Durch ihn hatte Wolfgang mit einem Schlag ein interessantes Völkchen, das sich als Fangemeinde um Werners Band scharte, kennen gelernt. Dadurch war endlich angenehme Abwechslung in sein Leben gekommen. Aber die kostete natürlich auch Geld und so schrumpfte sein Vorrat schneller zusammen, als ihm lieb war. Werner, der Wolfgangs Geschichte kannte und nun auch dessen Misere, beriet sich während einer Spielpause im Club, der fast wie eine Zweitwohnung für Wolfgang geworden war, mit ihm. „Tja, mit deinem abgebrochenen Studium und ohne Ausbildung wirst´ es schwer haben, irgendwo angestellt zu werden. Kannst´ mit irgendwas Musik machen?“ Wolfgang hatte lachen müssen. „Flöte spielen hab ich lernen müssen“, hatte er geantwortet. „Du, lach net. Kennst´ net die „Jethro Tull?“. Das kann sich ganz fetzig anhören. Na ja, aber a bissla mehr als Hänschen klein solltest du schon drauf haben. Und heim willst´ a net?“ Wolfgang hatte den Kopf geschüttelt. „Na, so bald net und ich lass mir noch alles offen!“ Werner hatte überlegt. Dann war er ein wenig näher an Wolfgang herangerückt und hatte mit gedämpfter Stimme gesagt: „Ich hab´ von einem Typ gehört, der mit LSD und Hasch dealt. Vielleicht könntest du bei dem einsteigen. Das soll recht einträglich sein. Soll ich an Kontakt herstell´ n?“ Darauf hatte Wolfgang Werner entgeistert angesehen. „Traust du mir sowas wirklich zu? Ich dachte, du kennst mich mittlerweile! Mit so einem Dreck hab´ ich nichts am Hut!“, hatte er sich ereifert. Werner hatte zu besänftigen versucht: „Tschuldigung, Zugetraut hätt ich dir das net wirklich. Ich dachte bloß wegen der Kohle. Da wird eben so Mancher schwach!“ Wolfgang hatte nichts erwidert, nur starr vor sich hin geblickt. „Weißt du was, Wolfi? Dann gehst´ halt noch die paar Monat zu meiner Tante rauf an die Zonengrenze. Dort ist`s billig und viel Fabriken gibt´s dort a, dort findest du garantiert was und ich ruf meine Tante an, dass sie dir mein altes Zimmer für umsonst gibt! Gehst ihr eben a bissla zur Hand, weil die Jüngste is sie a nimmer. Aber wie gesagt, sehr liberal. Und die Stadt is a net so übel. Besuchen tät ich dich a bald kommen!“ So war Wolfgang an der Zonengrenze gelandet und zu seiner Überraschung war die mittelgroße Textilstadt nicht so trostlos wie befürchtet. Auch die Umgebung war ganz idyllisch, außerdem kam man mit den Leuten schneller in Kontakt als in einer Großstadt. Billig lebte es sich hier wirklich und Dank Werners warmer Empfehlung wohnte Wolfgang mietfrei bei dessen Tante. Gut, das Zimmer war kein Kracher, karg und altmodisch möbliert, doch Wolfgang nutzte es sowieso überwiegend nur zum Schlafen. Alles in allem gefiel es Wolfgang recht gut und noch besser, nachdem er die süße Rena und ihre drollige Freundin Tina kennen gelernt hatte. Falls es noch mit einem Job klappen sollte, konnte er dem kommenden Winter sorglos entgegen sehen!
Читать дальше