Martina strengte sich an, so schnell wie möglich den Rest des Heimwegs hinter sich zu bringen. Dabei drehte sie sich immer wieder misstrauisch um, ob sie wirklich nicht verfolgt wurde. Erst als sie das LKW-Motorengeräusch in der Nacht verklingen hörte, normalisierte sich ihr Puls wieder! In dieser Nacht träumte sie schlecht. „Geht doch in den Urwald, ihr Affen, dort gehört ihr hin“, riefen ihr Stimmen zu. Und: „Fortjagen sollte man euch!“ Herr Preisinger lachte dröhnend. „Bring mir deinen Gammler nur her, den steck ich in ein Arbeitslager, ho ho ho!“ Plötzlich spürte sie eine eigenartige Beklemmung. Martina sah sich durch einen dunklen Wald gehen und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Dann bemerkte sie eine große Schlange sich neben ihr einen Baumstamm hinabwinden. Deren Haut war dunkel und glänzte und sie zischelte ihr zu: „Ich tue dir nichts, ich tue dir nichts, ich mag disch doch!“ Tina ekelte sich und war fasziniert zugleich. Sie antwortete: „Ich bin nicht hilflos!“ Dann wachte sie auf. Ihr erster Blick fiel auf ein Beatles-Poster und sie lächelten auf sie herunter. Sofort fühlte sich Martina besser. Sie war allein im Schlafzimmer. Weder ihren Vater, noch ihre Mutter und Ursel hatte sie aufstehen gehört. Sie streckte ihre Glieder und schwang sich aus dem Bett. In der Wohnküche lag auf dem Tisch der Zettel, den Martina ihrer Mutter vor dem Zubettgehen mit einer Nachricht versehen hinterlassen hatte. Nun hatte Elisabeth mit ihrer krakeligen Handschrift etwas hinzugefügt. „Bin bei Doktor Kronberg. Danke. Bis bald, Mutter!“ In der Stube war es gemütlich warm. Da es nachts schon ordentlich frisch geworden war, hatte ihr Vater fürsorglich den Kohlenofen, der neben dem Gasherd stand, angeheizt bevor er zur Arbeit gegangen war. Martina öffnete prüfend die Klappe des Ofens. Die Braunkohle glühte noch, trotzdem füllte sie noch eine Handschaufel voll mit Wärme bringenden Eiern in die Glut. Dann öffnete sie die Tür zum Flur, damit die Wärme hinausströmen konnte und ihr die Waschprozedur angenehmer machte. Später mischte sie ein paar Löffel von ihrer Weizenkleie mit Joghurt und goss Kirschsaft aus einem Einweckglas darüber. Das war ihr Frühstück. Sie genoss diese Augenblicke, wo sie ganz allein sein konnte, doch es dauerte nicht lange und ihre Mutter kam nachhause. Sie wirkte erleichtert. „Du hast Recht gehabt, Tina. Doktor Kronberg hat einen Sehtest mit mir gemacht und mich zum Augenarzt überwiesen. Ich brauch tatsächlich eine Brille.“ „Siehst du! Man muss nicht immer gleich das Schlimmste annehmen“, freute sich Martina. „Ich hab schon immer Angst vor Ärzten gehabt“, gestand Elisabeth. „Na, wenn ich mir vorstelle, wie die noch vor fünfzig Jahren vorgegangen sind – besonders die Dentisten - kann ich dich ja sogar verstehen“, räumte Martina ein, „mittlerweile haben die doch ordentliche Fortschritte gemacht und deine Kopfschmerztabletten haben sie auch erfunden, nicht?“, fügte sie schelmisch hinzu. Bald darauf brachte der Postbote wieder ein paar Briefe für sie. Einer kam aus dem Rathaus. „Schau mal, der Oberbürgermeister schreibt dir“, staunte Elisabeth, zwischen Bewunderung und Sorge schwankend. Auf das Schlimmste gefasst, las Martina diesen Brief zuerst. Er war sehr höflich abgefasst. Der Herr Oberbürgermeister warb um Verständnis für die Presse, kritisch zu sein sei nun mal deren Job. Gewiss, man hätte sich freundlicher ausdrücken können aber sie solle sich das Gedruckte nicht so zu Herzen nehmen. Selbstverständlich habe er auch Verständnis für die heutige Jugend. Schließlich sei er selbst einmal jung gewesen und erneut bat er um Verständnis für die finanzielle Situation der Stadt. Gerade im Zonenrandgebiet hätte man es nicht leicht und versuche trotzdem das Beste. Dass man nicht für jeden Geschmack entsprechende Einrichtungen schaffen könne müsse eingesehen werden denn das täte wirklich den Etat sprengen. Der Oberbürgermeister wünschte Martina noch alles Gute und grüßte sie formvollendet. Mit gemischten Gefühlen blieb sie zurück. Für sie war das Wort Verständnis zu oft gefallen. Vielleicht sollte sie diesen Brief ebenfalls in der Zeitung abdrucken lassen, damit die Alt-Nazis auch Verständnis aufbrächten! Da es in den meisten Privathaushalten noch kein Telefon gab – in ihrem schon gar nicht – schrieb Tina einen Brief an Rena. Den wollte sie später auf dem Weg zur Arbeit in deren Briefkasten werfen. Hoffentlich wahrten Renas Eltern das Briefgeheimnis! Sie schrieb ihr von Wolfgangs bevorstehendem Vorstellungsgespräch und er es auch wirklich wahrnehmen sollte. Alles Weitere dann morgen nach der Berufsschule in der Flipperbar! Sie bekam heute noch einmal Post.
Als sie später durch die Telefonzentrale zum Disponenten-Büro gehen wollte, hielt Frau Engelbrecht sie auf. „Warte mal Tina, ich soll dir noch einen Brief von Adi geben. Den hat er in der Früh bei einem Lagerarbeiter abgegeben!“ „Was will d e r mir denn schreiben?“, fragte Martina, unangenehm berührt. Susanne Engelbrecht lachte. „Weiß ich´s? Les ihn halt, dann weißt´ es selber! Aber wenn ich dir einen Rat geben darf Tina, halt dich ein bisschen zurück bei dem. Adi ist ein Filou!“„ Und verheiratet ist er auch, ich bin informiert. Keine Sorge, ich kann schon auf mich aufpassen!“ Sie steckte Adis Brief in ihre Tasche. Sie würde ihn nachher in ihrer Zigarettenpause lesen. Zu ihrer Überraschung sah sie Herrmann aus dem anderen Büro zu ihnen kommen. „Was tust du denn noch hier?“, fragte Tina, „wenn es wegen des Gitarrenunterrichts ist, ja mei, dann kommst halt am Samstagnachmittag zu mir heim!“ „Das sowieso“, sagte Herrmann frostig, „aber ich hab noch was anderes mit dir zu besprechen. Komm mal mit!“ Er machte so ein ernstes Gesicht dabei. Hatte sie gestern einen Fehler gemacht? Herrmann schob sie aus der Telefonzentrale über den Flur zu einem noch menschenleeren Raum, in dem abends die Nahverkehrsfahrer ihre Abrechnungen abgaben, die hier verbucht wurden. Diese verantwortungsvolle Tätigkeit hatte Martina bisher noch nicht ausführen dürfen. „Was ist denn nun?“, fragte sie ungeduldig. „Was hast´ n du mit dem van Dyk zu schaffen?“, kam Herrmanns Gegenfrage. Martina lachte erleichtert. „Ich dachte schon, es sei was Schlimmes. Na nichts!“ „Was, na nichts?“ „Na nichts hab ich mit ihm. Wie kommst du da drauf?“ „Immerhin hast du dich von dem gestern Nacht heimfahren lassen! Der hat garantiert in halb Deutschland eine sitzen! Meinst du ich hätt net bemerkt, wie er dir hinterher schleicht?“, schimpfte Herrmann. „Ph“, machte Martina, „das ist mir doch egal. Hättest du mich halt mit deinem Fahrrad abgeholt und auf dem Gepäckträger nachhause gebracht. Oder hätte ich vielleicht alleine durch die Nacht marschieren sollen? Du bist mir ja ein schöner Freund!“ Martina tat beleidigt. „Freilich brauchst net durch die Nacht laufen, aber frag in Zukunft lieber einen Disponenten. Wie schaut das denn aus, wenn eine aus dem Büro mit einem Fernfahrer rumtut!“, antwortete Herrmann. Jetzt reichte es Martina. D a s hätte er nicht sagen dürfen! „Bis jetzt hab ich noch mit keinem „rumgetan“ und keinen Unterschied zwischen euch Typen aus dem Büro und den Fernfahrern feststellen können“, giftete sie Herrmann an, „ihr quatscht genauso Schweinereien wie die, wenn überhaupt! Mein Vater fährt auch LKW und meine Mutter geht putzen und trotzdem haben sie mir ein paar Manieren beigebracht! Das nächste Mal trage ich eine Krone und einen Hermelin, wenn ich ins Büro komm. So, und wenn du jetzt fertig bist, kannst´ ja endlich heimradeln. Der Adi ist ja sowieso wieder weg!“ Sie drehte sich um und ließ Herrmann einfach stehen. „Dann bis Samstag, gell?“, rief er ihr kleinlaut nach, aber sie antwortete nicht mehr. Trotz ihres Ärgers ging ihr die Arbeit gut von der Hand. Wie immer während der Spätschicht hatte sie gegen 18.00 Uhr eine kleine Pause. Sie marschierte rauchend ein paar Runden im Hof herum und beobachtete dabei den Betrieb an der Rampe. Ein Nahverkehrs-LKW nach dem anderen kam jetzt von seiner Tagestour zurück. Das würde sich noch eine Weile hinziehen. Als sie einen Apfel aus ihrem Täschchen holen wollte, fiel ihr Adis Brief wieder in die Hände. Sie ging in den Souterrain und setzte sich an einen Tisch, an dem Adi heute Morgen wohl den Brief geschrieben haben mochte und begann zu lesen:
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