Die S-Bahn kam mitten auf der Strecke zum Stehen. Eine gemurmelte Ansage teilte den Fahrgästen mit, dass sich die Einfahrt in den Bahnhof verzögern würde. Ella ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Er fiel auf die Bürogebäude, die die Szenerie der Innenstadt verschandelten. Ella hatte heute kein Auge für die scheußliche Architektur, nur für das erleuchtete Fenster in der Mitte des Gebäudes genau gegenüber. Man sagte ja, das Gras auf der anderen Seite sei grüner. Ella kam es so vor, als wäre auch das Büro auf der anderen Seite freundlicher. Es war in gelbes Lampenlicht getaucht, um den grauen Regen auszusperren. Ein paar Leute standen und saßen um gruppenartig angeordnete Schreibtische herum und unterhielten sich. Niemand gestikulierte hektisch, niemand rannte, niemand sah aus, als wäre der Tag um halb neun schon verloren. Ella hätte gern getauscht. Genau so war es ihr auch schon im Spielzeugladen gegangen, in dem sie vor ein paar Tagen für ihre Nichte zum Geburtstag einen x-beliebigen Teddy gekauft hatte. Sie hatte an der Kasse gestanden und die Verkäuferin beneidet. Das war ein ruhiger, freundlicher, harmloser Arbeitsplatz.
Wie immer, wenn sie solche Gedanken überkamen, versuchte sie ihre Gedanken auf erfreuliche Dinge zu lenken. Diesmal war das leicht. Am Mittwoch – also keine 48 Stunden später – würde sie im Flugzeug nach Portugal sitzen. Das war doch mal was.
Katharina, ihre beste Freundin auf der Welt seit sie beide fünf Jahre alt gewesen waren, heiratete an der sonnigen Algarve. Es war Ehrensache, dass Ella dabei sein würde. Sie hatte den Urlaub lange geplant und akribisch vorbereitet. Ihre To-Do-Liste war monströs, aber sie war zuversichtlich, dass sie alles schaffen würde, solange nur nichts Unvorhergesehenes passierte.
Katharina war Reisejournalistin und als solche nie lange am selben Ort. Es kam nicht mehr oft vor, dass Ella die Gelegenheit hatte Zeit mit ihrer besten Freundin zu verbringen. Früher war das anders gewesen, als sie kleine Mädchen gewesen waren und vom Reisen geträumt hatten. Die Orte, zu denen sie sich hinphantasiert hatten, lagen jenseits der Welt, die einem später als Erwachsener offenstand, aber Ella hatte sie nie vergessen.
Mit jeder Reise, mit jedem Artikel wuchs ihr Erfolg. Jeder Schritt, den sie tat, brachte sie ein Stück weiter. Niemand wusste wie sie es machte, aber Katharina kannte in jeder Stadt, in jedem Land die einzigartigsten Orte; die Strände, die Touristen immer um eine Abzweigung verpassten, die Dörfer, die wirklich verwunschen waren und nicht nur so taten um bescheuerte Souvenirs zu verkaufen und die Strandbars, um die die Einheimischen noch keinen großen Bogen machten.
Wie das Leben so spielte, eines Tages war die Zeit gekommen, als sie den Tagträumen und Phantasiereisen entwachsen waren. Es war über Nacht passiert, oder zumindest schien es jetzt so. Vorgestern hatten sie sich vorgestellt, auf einem Floß aus Sofakissen den Amazonas hinunterzufahren, gestern hatten sie sich bei der Uni eingeschrieben und heute gingen sie getrennte Wege. Letztendlich blieb nur, entweder Nägel mit Köpfen zu machen, sich hinauszuwagen, zu sehen, was die wirkliche weite Welt einem bieten würde, oder aber die Luftschlösser aufzugeben und sich mit dem zu begnügen was übrigbleibt.
Katherina hatte den ersteren Weg eingeschlagen, Ella den letzteren.
Ella war immerhin dabei gewesen, als Katharina zu neuen Ufern aufgebrochen war. Dem als Hobby begonnenen Blog über die exotischen Restaurants der Stadt, die sie und Ella zusammen ausprobiert hatten, war ganz selbstverständlich ein Volontariat bei einer Zeitschrift gefolgt, das Katharina abgebrochen hatte, weil man versuchte ihr reinzureden. Sie hatte gejobbt und weiter gebloggt. Dann war mit derselben selbstverständlichen Leichtigkeit eine Kolumne gefolgt und später hatte der Verlag sie fest angestellt. Diesmal war man schlau genug, ihr nicht reinzureden. Man schickte sie nur von A nach B, auf Yogareisen nach Indien, auf Karibikinseln, zum Karneval nach Venedig und zum chinesischen Neujahr. Katharina schrieb über alles, so wie sie es vorfand. Das war natürlich Pech für die verheißungsvollen Orte, die sich als totale Reinfälle entpuppten, wie zum Beispiel die als charmant und idyllisch gepriesenen Fischerdörfer, in denen Katharina auf der Standpromenade an einem Nachtclub nach dem anderen vorbeigeschritten war, in der vergeblichen Hoffnung zumindest noch ein einziges, übriggebliebenes Fischerboot zu finden.
Jetzt heiratete sie – jemanden, den sie auf einer Reise kennengelernt hatte. Phillip war Engländer und Erbe eines ganzen Netzes von Hotels, das sich über den gesamten Erdball spannte. Dazu gehörte auch das Hotel an der Algarve, in dem die Hochzeit stattfinden würde.
Seit sie Phillip kannte, hatte Katharina natürlich noch weniger Zeit als vorher. Wenn sie nicht gerade auf einer neuen Reise war, brachte sie die letzte zu Papier. Es kümmerte die Redaktion wenig, wo sie das tat. Immer wieder setzte sie sich spontan ins Flugzeug, um ihn zu besuchen. Phillip, der das Reisen lange nicht so genoss wie seine Angebetete, war dazu verdammt von Luxushotel zu Luxushotel zu ziehen, um sich auf den Tag vorzubereiten, an dem er das Ruder übernehmen sollte. Katharina besuchte ihn in jedem einzelnen der Nobelschuppen. Ella hatte bei Katharina schon viele Male „genau den Richtigen“ kommen und gehen sehen. Phillip passte nun wirklich nicht zu Katharina. Er sprach über das Reisen, als hätte er lebenslänglich. Das würde sowieso nicht halten.
Es hielt.
Ella gestand sich selbst durchaus ein, dass sie eifersüchtig war. Sie vermisste Katharina, und es hatte Zeiten gegeben, in denen sie diesen Prince Charming am liebsten in einer Kiste mit Luftlöchern zum entlegensten Außenposten des Commonwealth verschifft hätte. Leider lernte sie Phillip nach sechs Monaten persönlich kennen, und zu ihrem Ärger war es unmöglich ihn nicht zu mögen. Sie verstand jetzt, warum Katharina ihn nicht so einfach wieder gehen lassen wollte wie seine Vorgänger.
Nun war es also soweit. In Portugal läuteten die Hochzeitsglocken.
Ella hatte ihren Flug schon gebucht, noch bevor Katharina ihr Brautkleid ausgesucht hatte. Sie hatte zwei Wochen Urlaub eingereicht. Die Hochzeit würde im letzten Drittel dieser Zeit stattfinden. Vorher waren Jungesellinnenparty und dergleichen abzuhandeln. Ella war so froh, dass sie nochmal so viel Zeit am Stück mit ihrer besten Freundin verbringen konnte.
Ella selbst hatte leider nie so viel Glück gehabt wie Katharina, der ihr Traumberuf in den Schoß gefallen war. Sie hatte sich gesagt, dass es so etwas wie einen Traumberuf vielleicht gar nicht gab, wenn man nicht nur aus Spaß arbeitete. Mit dieser Einstellung nahm sie das Thema Jobsuche in Angriff. Diese Zeit war ihr vor allem als stressig, frustrierend und deprimierend in Erinnerung geblieben. Am Ende hatte sie sich sogar von den Absagen niederschlagen lassen, über die sie sich in einer normalen Welt hätte freuen sollen, weil sie schon die Stellenbeschreibung abschreckend gefunden hatte. Mit der Zeit hatte sich Verzweiflung breitgemacht, und sie hatte ihre Ansprüche tiefer und immer tiefer geschraubt. Irgendwo musste es doch einen Job geben, der nichts Besonderes war, von dem niemand auf der Uni träumte und um den die Konkurrenz nicht so hart war. Irgendetwas musste doch übrigbleiben.
Ein geisteswissenschaftliches Studium war ein Risiko gewesen, und Ella war es bewusst eingegangen. Von der Zeit, in denen sie sich tagein, tagaus in den Instituten für Anglistik und Romanistik herumgetrieben hatte, war es ihr allerdings nicht wie ein Risiko vorgekommen. Die Zweifel hatten sich erst nachträglich wieder gemeldet, als ihr klargeworden war, dass aus Geisteswissenschafts-Studenten Geisteswissenschafts-Absolventen wurden, und dass unheimlich viele von ihnen hofften, dass aus ihnen Journalisten werden würden. Ein entsprechendes Praktikum, das Ella immerhin trotzt der heftigen Konkurrenz ergattert hatte, wurde zu einem absoluten Albtraum. Es lag vielleicht nicht zuletzt daran, dass sie nicht mit der gleichen Leidenschaft dabei gewesen war, mit der andere ausgestattet waren. Sie sah sich selbst nicht vor sich, wie sie mit Engagement über die Verlosung eines Kleinwagens bei einer Baumarkteröffnung schrieb, oder eine Doppelseite zur Lebenswichtigkeit der aktuellen Schuhmode verfasste, nur weil das kleine Schritte auf dem Weg zum großen Ziel waren. So groß erschien ihr das Ziel einfach nicht.
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