Hans W. Schumacher - Das Gespenst der Karibik

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Das Gespenst der Karibik sammelt 14 Kurzgeschichten und Erzählungen des Autors, die zwischen 1954 und 1995 entstanden sind. Die Geschichten zeichnet eine subjektive und illuminative Sichtweise aus, die von den existenziellen Erfahrungen der Protagonisten gefärbt sind.

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Hans W. Schumacher

Das Gespenst der Karibik

und andere Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis Titel Hans W Schumacher Das Gespenst der Karibik und - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Hans W. Schumacher Das Gespenst der Karibik und andere Erzählungen Dieses ebook wurde erstellt bei

Zeitlupe

Cave cinquantequatre

Eine schöne Geschichte

Das Gespenst der Karibik

M. Cybulka Klavier- und Geigenunterricht

Starnberger Idylle

Der Hochzeitsgast

Jagdfieber

Die Kur

Corrida

In der Fremde (Romanfragment)

Schwerelos

Auf ans Meer

La cigale chante toujours

Bibliographischer Anhang und Erläuterungen

Impressum neobooks

Zeitlupe

In diesem vielleicht etwas willkürlich herausgehobenen Moment steht die Fünf-Zentner-Bombe etwa 40 cm von der Oberkante eines Eßzimmerfensters entfernt im Raum. Sie ist dort nur ein Gegenstand unter vielen anderen. Sieht man davon ab, daß ihre Gegenwart neu ist und einzigartig in diesem Ensemble von Wänden, Dächern, Kaminen und Bäumen, so ist doch hier schon öfters ein fliegendes Objekt gesehen worden, vielleicht eine Schwalbe, ein von bösen Buben geworfener Stein oder ein Stück Papier, das in den Hof hinabsegelte, der heute im schönsten Sonnenschein daliegt. Es ist überhaupt ein wundervoller Tag des Jahres 1944, lauer Sommerwind bewegt duftige Tüllgardinen an Fenstern, die geöffnet scheinen, um Licht und Luft hineinzulassen.

Zwischen dem augenblicklichen Ort der Bombe vor dem Fenster im ersten Stock des typisch deutschen Mietshauses und der Stelle im Keller, wo sie detonieren wird, sind es etwa 30 m Luftlinie. Die Bombe liegt schräg, ist 1,50 m lang und 35 cm breit und hat das charakteristische Aussehen einer Bombe. Man braucht das niemand lang und breit zu erklären. Man sieht es auf den ersten Blick, man hat das sozusagen im Gefühl. Bei ihrem Anblick treten die Augen aus dem Kopf, der Mund wird trocken, das Gehirn beginnt zu brennen, die Glieder erfaßt ein unwiderstehliches Beben, man starrt darauf, möchte wegsehen und kann es doch nicht.

Ihre zylindrische Form mit den bekannten Leitflächen am hinteren Ende, die garantieren sollen, daß sie mit dem Zünder zuerst auftrifft, ist von jener nüchternen Zweckmäßigkeit, die die Objekte des technischen Zeitalters zu prägen pflegt. Einen gewissen Gegensatz dazu bildet die lustige Aufschrift in gelber Farbe Good day and good bye to you Nazibastards, yours sincerely Henry .

Henrys "Vogel", wie er seine Vickers-Wellington nennt, hat sich seit dem Abwurf ungefähr zweihundert Meter weiter bewegt und noch weitere "Eier" fallen lassen, die wie Tropfen an einer unsichtbaren Schnur über der Stadt pendeln, von der auch aus zweitausend Meter Höhe noch erkennbar ist, daß ihre Lage am Strom wonderful ist. Henry denkt, nach dem Krieg werde ich da unten mal eine Dampfertour machen. Tante Evelyn hat mir so viel von den romantischen Städtchen und Burgen vorgeschwärmt. Aber erst einmal muß ich hier heil rauskommen, und er betrachtet mißtrauisch die weißen Schrapnellwölkchen der Luftabwehr, die aber zum Glück die Höhe seines Geschwaders nicht erreichen.

Die Bombe glänzt im Sonnenlicht, ihr Schatten fällt auf die ockergelb verputzte Wand des Hauses. In der Verkürzung sieht ihr Schatten aus wie eine überdimensionale Runkelrübe. Nicht weit darunter, nahe dem Speisezimmerfenster steht ein frischgedeckter Tisch, dessen Mittelpunkt von einer buntbemalten Kaffekanne eingenommen wird. Die Kanne hütet eine Herde wertvollen, alten Geschirrs, das zur Feier des Geburtstags der Tochter des Hauses - sweet seventeen, hübsch und intelligent - aus dem Glasschrank genommen wurde, wo es mit anderen hundertjährigen Sachen in einer Art Dornröschenschlaf dahindämmerte, neben Miniaturen der Großeltern in Silberrähmchen, Korallenketten, Rubingläsern, Elfenbeinschnitzereien, silbernen Zuckerdosen und anderem Zeugs, das sich im Laufe der Familiengeschichte angesammelt hat: einer vergilbten Lutherbibel, einem vergoldeten Opernglas, Urgroßvaters Pfeife mit Troddeln, Großmutter Elisabeths Lorgnon (zusammenlegbar), einer eingelegten Holzschachtel mit den Milchzähnen von Vera, die heute Geburtstag hat und ihres zwei Jahre jüngeren Bruders Rüdiger. Niedliche Sentimentalitäten. Frau Messel hat unter Hinopferung großer Mengen von Lebensmittelmarken sowie der Bestechung des Bäckers mittels einer Flasche Sliwowitz, die ihr Mann aus dem Jugoslawienfeldzug mitgebracht hatte, zwei Torten herstellen lassen, zu deren Verzehr man aber nicht gekommen ist. Sie stehen noch köstlich unberührt mit der Jahreszahl siebzehn in falscher Sahne geschmückt auf dem glänzenden Damasttischtuch, denn die Sirenen haben die Festgäste in den Schutzkeller gescheucht.

Auf das Geburtstagskind wartet der mit Blümchen dekorierte Platz, neben dem als Geschenk Goethes Gedichte liegen, die Vera nicht nur las, weil sie gerade in der Schule dran waren. Kürzlich hatte sie ein Faible für klassische Literatur entdeckt und Goethes "Willkommen und Abschied" ging ihr unter die Haut, hatte sie doch gerade ihr erstes heimliches Rendezvous hinter sich. Von ihrem Platz aus sieht man zu dem weit geöffneten Fenster hinaus, vor dem befremdlich die blaugraue Bombe mit der gelben Schrift steht.

Der Tisch von deutscher Wertarbeit, ist eigentlich viel zu wuchtig für normale Ansprüche, man kann schon sagen, daß er nie richtig auf die Probe gestellt worden ist. Mit seinen krummen Beinen steht er da wie ein lebendiges Wesen, einladend und vertrauenerweckend. Er scheint zu sagen, komme was da wolle, ich nehme es auf mich. Und es drängt sich ja wirklich genügend Schönes und Nahrhaftes auf ihm herum. Solide Vorkriegsware, als das Handwerk noch zu stolz war, Pfusch herzustellen. Überhaupt ist nichts im Zimmer, was der technischen Nüchternheit der Bombe irgendwie gleichkäme. Alles ist irgendwie altmodisch, verschnörkelt, gemütlich, aufgeputzt. So hat es Mutter Sabine gern. Spitzenkanten hier und dort, geblümte Kissenbezüge auf dem Biedermeiersofa, Schondeckchen, wo Fetthaare die Sesselkanten berühren könnten, Perserteppiche, deren intrikates Muster die Augen verwirrt, Brücken, die die spärlichen Parkettlücken überdecken, eine dunkle Anrichte im Jugendstil mit Kristallvasen und -schüsseln bekrönt, darüber ein Ahnenbild: Ururgroßvater Friedrich Wilhelm Messel in der Uniform der Feldjäger, dunkelhaarig und mit freundlich träumerischem Blick in eine imaginäre Ferne schauend. Die gemütvoll langweilige deutsche Mittelgebirgslandschaft hinter ihm liegt im rötlichen Abendlicht. Ein dicker Kachelofen nimmt die Zimmerecke ein. Er wird von der Küche her beheizt. Alles blitzt, obwohl die Kriegsputzmittel so miserabel sind. Alle Dinge in der Wohnung stehen da mit einer friedvollen Beharrlichkeit und Bestimmtheit, als gehörten sie gerade dort und nirgendwo anders hin.

Eine hundertstel Sekunde später hat sich bis auf die Zerstörung von Mutti Messels schöner Kaffeekanne nicht viel geändert. Die stählern blitzende Bombe hat sie leider voll getroffen. Die Scherben des mit einer Rosenknospe gezierten Deckels, der Schnauze, des prächtigen Henkels und des blümchenbemalten Bauches stehen wie ein Schwarm Schmetterlinge über dem Tisch, der Inhalt, guter, schwarzer, echter Bohnenkaffee (den zu organisieren Leutnant Messel fast das Kriegsgericht riskiert hatte) ist dabei, sich über die Tischdecke, ein Aussteuerstück, zu ergießen. Eine fürchterliche Schweinerei, wie soll man das wieder herauskriegen!

Der Eintritt der Bombe in das Zimmer hat sich mit unförmlicher Selbstverständlichkeit vollzogen. Jetzt ist sie nun einmal da und fast nicht mehr wegzudenken. Der kleine Defekt, den sie verursacht hat, hat sie seltsamer Weise beinahe heimisch werden lassen. Mit Fremden geschieht so etwas öfter. Man ist ihnen gegenüber solange frostig reserviert, bis diese vor Verlegenheit irgendetwas Ungeschicktes anrichten. Unter Entschuldigungen und Beteuerungen, daß es nichts ausmache, werden so erste Bande geknüpft, die dann oft bis zum Tode halten. Dieser wird allerdings nicht mehr lange auf sich warten lassen, denn die Berührung des Zünders mit der Rosenknospe auf dem Kaffeekannendeckel hat den empfindlichen Mechanismus ausgelöst, der nach einer kurzen Verzögerung die unter dem Stahlmantel verborgene Sprengmasse zur Explosion bringen wird.

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