Nur noch ein paar Meter musste ich durchhalten, und ich würde da sein. Von Weitem konnte ich mein Ziel, ein altes Backsteingebäude, bereits sehen. Komplett außer Puste kam ich endlich an der großen Eisentür an und wollte den Schlüssel aus meiner Handtasche hervorholen. Aber außer benutzten Taschentüchern, meinem eingepackten Salami-Sandwich für die Mittagspause, Tampons, einem Labello, meinem Handy, einer angerissenen Tutti-Frutti-Schachtel und meinen eigenen Wohnungsschlüsseln fand ich nichts. Niente. Um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, steckte ich mir die kleine Papiertasche mit dem Frühstück zwischen die Zähne, zwickte den Coffee-to-go-Becher samt meinem wichtigen Briefumschlag in den linken Ellbogen, und lockerte mir mit meiner freien Hand erstmal die Jacke. Seufzend setzte ich die Suche in meiner Jackentaschen fort – aber nichts. Dann begann ich erneut in meiner Handtasche zu suchen und … wieder nichts. Was ich fand, war einen verlorenen geglaubten Mascara, aber keine Schlüssel! Wütend über mich selbst stampfte ich in den Boden. Das war wieder eine von diesen Situationen, in denen ich es wirklich bereute, mich immer in die falschen kleinen, lederbraunen Handtaschen zu verlieben – die Platz für gar nichts hatten! „Mischt, wo habe ich den bedammten Schlüssel wieder!?“, nuschelte ich mit Packpapier zwischen den Zähnen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als eben zu klingeln. Ich hasste es! Genervt drückte ich auf den kleinen, beleuchteten Knopf an der Sprechanlage. Zuerst ein langes Räuspern, dann krächzte mir eine allzu gut bekannte schrille Stimme im blechenden Sound durch die Sprechanlage ein „Hallo, wer ist denn da?“, entgegen. Immer noch die Pappe zwischen den Zähnen, maulte ich: „Mmh jetscht mach schon auf, … ich binsch, Mia, wer denn schonst?“ Ständig diese blöde Fragerei – das war ja komplett sinnlos! Erstens konnte er mich ja durch die Kamera am Bildschirm sehen und zweitens war ich unverwechselbar mit meiner sonnengelben Regenjacke und mit meiner wilden, lockigen Mähne. Das machte er nur, um mich zur Weißglut zu bringen! „Ich hoffe, du hast auch für mich ein Rosinenbrötchen mit dabei“, ertönte es wieder zurück. „Mensch Ben, jetscht mach´ endlich diese Scheischtür auf, ich bin schon komplett nassch!“ Wie ein kleines Kind stampfte ich wütend vor der Tür herum und … ‚Plumps!‘, da lag es nun, unser Frühstück vom Café Bald Neu – bis zur Hälfte in einer kleinen Pfütze. Na super, was für ein Tag! Das fängt ja alles wieder ganz toll an! Genervt hob ich alles wieder auf. Da ich noch immer vollbepackt vor einer geschlossenen Tür stand, suchte ich mir noch eine saubere, vor allem aber trockene Papierecke und zwickte mir die Papiertasche erneut zwischen die Zähne, bis endlich das ersehnte Geräusch ertönte. Mit dem Rücken drückte ich die Tür auf. Von montags bis freitags, vorausgesetzt es gab keine derartigen Zwischenfälle, ging ich durch diesen aus Backsteinen gemauerten Tunnel und gelangte über eine Wendeltreppe aus Metall ins oberste Stockwerk, wo ich meist von Ben sehnsüchtig erwartet wurde. „Guten Morgen mein Schnauzebärchen“, gluckste er mir fröhlich mit einer für ein männliches Wesen viel zu hohen, schrillen Stimme entgegen. „Da bist du ja endlich! … Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr!“ Warnend schaute ich ihn an. Nur am Rande bemerkt: An manchen Tagen hasste ich diese Kreativität bei Kosenamen über alles. Und heute war so ein Tag – ohne Zweifel! Ben stand angelehnt an der Tür, bekleidet mit einem hellblauen Overall, der mich immer an Superman´s Gummianzug erinnerte, und wippte mit seinem linken Fuß auf und ab. Sein Blick war fest auf den Sekundenzeiger seiner pinken Ice-Watch gerichtet und es schien, als würde er leise mitzählen. „Warte … du bist neunzehn Minuten und genau … achtundzwanzig Sekunden zu spät! Meine Liebe, das ist definitiv ein Rückschlag!“ Natürlich versuchte er dabei, ein ernstes Gesicht zu machen, was ihm allerdings schwerfiel. Außerdem gingen fünf Minuten auf sein Konto! Ben hatte sich seit ein paar Monaten fest vorgenommen, mich zu einem pünktlicheren Menschen zu erziehen. Hoffnungslos! Das wäre so, als würde man den Schiefen Turm von Pisa geraderücken wollen. Er dokumentierte meine Verspätungen jeden Tag mit präziser Genauigkeit, erstellte in seiner Freizeit sogar Diagramme darüber und nur gelegentlich konnte er eine kleine Besserung erkennen, die aber nur im Sekundenbereich lag, also absolut nicht nennenswert war. Tja, manchmal war ihm wirklich langweilig … Kopfschüttelnd ging ich an ihm vorbei, verkniff mir, ihm einen guten Morgen zu wünschen und verteilte meinen wichtigen Krimskrams auf seinem Schreibtisch. Unser durchweichtes Frühstück legte ich neben seinen Computer auf den Tisch und stellte meinen Becher daneben. Dabei schüttete ich mir etwas heiße Flüssigkeit auf meine ohnehin schon schmerzenden Finger. „Fuck! Arrghh!!!“, war das heiß! Aufmerksam wie er war, reichte er mir gleich ein Taschentuch. „Hier, für dich.“ Ich schob ihm das ganze Paket zu, denn mir war der Hunger sowieso schon vergangen. „Lass´ es dir schmecken. Ist halt schon ein bisschen … naja … vollgesabbert!“ Aber wie ich dieses gefräßige, kleine und liebe Monster kannte, machte ihm das nichts aus. Essen stand auf seiner Rangliste so ziemlich ganz oben. Ich zog meine nasse Jacke aus, hängte sie an der Garderobe auf, zupfte meinen Jeansrock etwas nach unten, meine bunt geringelte Strumpfhose wieder nach oben und ließ mich erschöpft in seinen Bürosessel plumpsen. Unsere neumodernen Bürosessel mit Hightech-Ausstattung sind zwar äußerst gemütlich, aber auch … nennen wir es mal … sehr speziell in ihrer Handhabung. Sie verfügen über eine echt tolle Wippfunktion, die ich bei jeder Gelegenheit ausnutze. Anfangs waren sie vor allem für Ben ein bisschen gewöhnungsbedürftig, da seine Gewichtsmasse eher unregelmäßig verteilt ist. Das meiste lagert vorne an seiner Körpermitte. Das hat zur Folge, dass sein süßer Waschbärbauch eben kugelrund ist. Außerdem ist er noch einen ganzen Kopf kleiner als ich, was ihn aber wiederum knuddelig wirken lässt. Beim Gehen machte er ein leichtes Hohlkreuz und ich könnte wetten, vielleicht auch noch viel Geld dabei verdienen, dass er das nur deshalb tut, um nicht ständig auf die Nase zu fallen. Tja … und die Kombination seines dezent leichten (um nicht gemein zu wirken) Übergewichtes, zusammen mit dem Hightech-Bürosessel, konnte schon fatal enden wenn man, so wie Ben, eben zu sehr von A nach B schaukelt. Da hatte es schon ein paar Mal ein lautes ‚Rums!‘, gegeben und unser Ben landete mit Schwung und einem erschrockenen Blick äußerst unsanft mit seinem Hinterteil auf dem Boden. Ich lehnte mich in seinem Sessel soweit wie nur möglich nach hinten, legte meinen Kopf in den Nacken und streckte meine Beine aus. Jetzt hat der Tag noch gar nicht richtig angefangen, und ich war schon total erledigt! Meine Beine schmerzten ein bisschen. Es war eben nicht empfehlenswert, mit Stiefeln mit hohen Absätze zu laufen. Ausgepowert schaute ich auf die weiße Decke über mir. „Sorry, mein Wecker hat den Geist aufgegeben. Ich kam viel zu spät aus den Federn und habe dann auch noch den Bus verpasst! Anschließend musste ich nochmal zehn Minuten auf den nächsten Bus warten und im Bald Neu war die Hölle los!“ In einer ungeraden Woche war es meine Aufgabe, für unser Frühstück aus unserem Stammcafé Bald Neu zu sorgen. Bedrückt knetete ich meine feuchten Haare durch. „Das weiß ich doch Süße, … aber wir arbeiten ja daran, dass du es vielleicht einmal im Jahr pünktlich zur Arbeit schaffst!“ Verständnisvoll tätschelte er meine Hand. „Hey! … Also soweit ich mich erinnern kann, bin ich bei Weihnachtsfeiern immer noch pünktlich gewesen!“, verteidigte ich mich, und da hätten wir ja schon das eine Mal, von was weiß ich wie vielen Arbeitstagen im Jahr – definitiv! „Tztztzt“, wie eine Gouvernante wackelte er mit seinem Zeigefinger hin und her. „Das zählt aber nicht meine junge Dame!“, konterte er kopfschüttelnd und ein wenig spitz. Er rieb sich die Hände und freudestrahlend packte er das erste Rosinenbrötchen aus, beobachtete es aber dann äußerst kritisch. „Igittigitt! Mia, du sabberst ja schon fast wie ein Bernhardiner!“ Anscheinend machte es ihm doch etwas aus. Er nahm das Brötchen mit zwei Fingern, spreizte dabei den kleinen Finger wie eine feine Lady, ging damit geradeaus in den kleinen Abstellraum, der uns als Teeküche diente, steuerte direkt den Mülleimer an und ließ es angewidert in den Eimer plumpsen. Gleich hinterher folgte der Rest des Papiersäckchens. Was für eine Verschwendung! Rasch trippelte er zurück zu mir, zog sich ein Desinfektionstuch aus einem Päckchen, das immer griffbereit neben seiner Tastatur lag, lehnte sich gegen den Tisch neben mich, und säuberte damit gründlich seine Hände und auch den Platz, auf dem zuvor noch unser Frühstück gelegen hatte. „Sorry, ist mir runtergefallen“, murmelte ich genervt. Mit einem scannenden Blick wanderten die Augen von Mr. Sauberkeit über meine verteilten Habseligkeiten auf seinem Schreibtisch, und erst jetzt fiel ihm mein dickes Kuvert auf. Neugierig zog er es unter meiner Tasche hervor. „Oh, was haben wir denn da?!“ Seine blauen Augen funkelten vor Spannung und er versuchte vergebens, den Absender zu entziffern. Seufzend zog ich die oberste Schublade von seinem Schreibtisch auf und reichte ihm wortlos seine pinkfarbene Lesebrille. Pink war absolut seine Farbe. Seit ich dieses Kerlchen kannte, trug er eine wasserstoffblonde Igelfrisur mit eingefärbten, pinken Spitzen. Aber irgendwie passte es zu ihm. Er war eben ein schriller Vogel; trotzdem hatte ich ihn sehr gerne und er war einer meiner besten Freunde, seit ich in München lebte. Dieses kleine, nervige Gezanke gehörte zu unserem Morgenritual; und obwohl es bestimmt keiner von uns beiden jemals zugegeben hätte, liebten wir es insgeheim. „ Merci! “, sagte er bestimmt. „Hmm … Werbeagentur Stoller … wofür brauchst DU bitte eine Werbeagentur?“ „Kannst aufmachen Ben!“ Das ließ sich mein Dickerchen nicht zweimal sagen und öffnete das Kuvert mit seinem Brieföffner. Wie in einem Karussell drehte ich mich mit dem Sessel im Kreis herum, spielte nervös mit dem Saum meines Jeansrockes und wartete gespannt auf seine Reaktion. Ben war nun der Erste, der von meinem zukünftigen (nennen wir es jetzt mal) Ereignis erfuhr. Eigentlich wollte ich das Kuvert zusammen mit Niklas öffnen, aber der war ja, wie so oft, seit er den neuen Job vor drei Jahren angenommen hatte, nicht anwesend. Fünf Jahre ist es bereits her, dass ich nach meinem Studium für Mikes Fotoatelier als Fotografin zu arbeiten anfing. Damals war Ben schon da. Sowie Bürolocher und sämtliches Fotomaterial, gehörte auch Ben fix zum Inventar. Als Assistent war er zuständig für das Lager, für Terminvereinbarungen und er organisierte benötigtes Equipment. Ebenso schaffte er es immer wieder, dass zickige No-Name-Models das taten, was sie eben tun sollten. Nämlich brav ihren Job erledigen, der darin bestand, im richtigen Augenblick zu lächeln, ohne dabei viel zu murren. Im Grunde keine allzu schwere Aufgabe; aber manchmal eine schwierigere Herausforderung, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Ben war einer, der seine Arbeiten akribisch genau abwickelte, dem gut nicht gut genug war, und er machte neben guter Laune auch noch den weltbesten Kaffee! Er war Mädchen für alles. Ohne ihn lief der Laden einfach nicht. Würden wir optisch besser zusammenpassen, und wäre Ben nicht schwul, hätte ich ihn wahrscheinlich von Fleck weggeheiratet.
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