»Ich würde sagen«, stellte Lene Huscher erschüttert fest, »der arme Geist hat unter der Last eines weiteren Verlustes einfach abgeschaltet.« Ihr Mann hatte bereits während Frau Trögers Erzählung mit den Auswirkungen seines Mitgefühls gekämpft. So gesehen war es für ihn einfacher, aktiv werden zu müssen. Mit Lene zusammen legte er die gar nicht so alte Frau auf das Sofa, bevor sie einen Krankenwagen riefen. Sie sprachen beide nicht viel. Während sie warteten, sahen sie sich in dem kleinen Wohnzimmer um. Lene Huscher nahm eine Karte, die in einer Vitrine gut sichtbar an zwei ineinander gestellten Tassen lehnte. »Liebe Mama, ich weiß nicht, ob wir uns in diesem Leben wiedersehen. Der innere Ruf hat mich nach Indien geführt. Demnächst werde ich zum ›Ashram der Ewigkeit‹ nach Nepal aufbrechen. Gott ist dort ganz nah. Verzeihe mir, dass ich meinen Weg gehen muss. In Liebe, Deine Marion.« Lene reichte die Postkarte mit indischem Stempel wortlos an Thomas weiter, um sich wieder Frau Tröger zuzuwenden, die sich gerührt hatte.
Nachdem Thomas Sprengel die Karte ebenfalls gelesen hatte, ging er in die Küche, um ein Glas Wasser zu holen – oder lieber einen Schnaps? Aber er wollte nicht einfach in den Schränken herumwühlen. Lene Huscher hatte in der Zwischenzeit die schwache Frau auf dem Sofa mit Hilfe mehrerer Kissen aufgerichtet. Nachdem er Frau Tröger das Glas gereicht hatte, hielt er ihr auch die Karte hin. »Könnten Sie uns dazu noch etwas mehr erzählen?«
Frau Tröger schien sich leidlich gefangen zu haben. Sie seufzte, während sie die Karte anstarrte, als wolle sie bis Nepal schauen.
Nach einer Weile des Schweigens hakte Lene Huscher nach. »War Ihre Tochter Sylvia deshalb in dem hiesigen Yoga-Ashram?«
Mit einem schwachen Nicken wandte die unglückliche Mutter der Kommissarin den Kopf zu. »Marion hatte mit Yoga begonnen, ein oder zwei Mal die Woche. Sie war begeistert, weil sie dadurch besser abschalten konnte, bei der Doppelbelastung.«
»Welche Doppelbelastung?«
»Sie war Rechtsanwaltsgehilfin in Teilzeit und studierte parallel hier in Heidelberg Jura. Als es auf die große Prüfung zuging, lernte sie ganze Nächte hindurch. Eines Tages hat sie jemand auf Yoga hingewiesen. Es hat tatsächlich geholfen. Sie konnte sich wieder besser konzentrieren, schlief ruhiger ... Von einem auf den anderen Tag war sie dort hingezogen, weil sie sagte, vor Ort weniger Zeit zu verlieren und damit öfter Yoga praktizieren zu können. Schließlich verschob sie ihre Prüfungen, kündigte ihre Arbeit und wenige Wochen später kam diese Karte«, erinnerte sich Anneliese Tröger, während ihr erneut Tränen über die Wangen rannen.
»Vielleicht kommt sie zurück, wenn sie gefunden hat, was sie sucht. Das kommt häufiger vor«, versuchte Lene Huscher einen hoffnungsvollen Gedanken zu formulieren.
»Es tut mir leid, Frau Kommissarin«, antwortete die Trauernde. »Wenn Sie mein Leben betrachten, glauben Sie da noch an Wunder?«
Ein Kloß schnürte Lene Huscher die Kehle zu. Sie war zu keiner unehrlichen Antwort fähig, doch ihr Mann half ihr. »Was macht Sie so sicher?«
»Sylvia hat dort nachgefragt«, erklärte Frau Tröger. »Marion war abgereist, keiner wollte oder konnte ihr Genaueres mitteilen. Daher hat sie selbst recherchiert. Es gibt aber keinerlei Hinweis auf einen ›Ashram der Ewigkeit‹ in Nepal. Damit wollte sich Sylvia nicht zufrieden geben, weil sie überzeugt war, dass Marion niemals ohne jede Verabschiedung gegangen wäre.«
»Teilen Sie diese Ansicht?«
Frau Tröger nickte. »Nach dem Tod ihres Vaters sind die Zwillinge unzertrennlich zusammengewachsen, haben sich blind verstanden, nie gestritten. Wie sich das wohl jede Mutter wünscht. Außerdem haben sie sich beide intensiv um mich gekümmert, seit ... Ich leide an MS. ... Nie haben sie mich spüren lassen, inzwischen eine Last zu sein.«
Thomas Sprengel konnte nicht mehr hinsehen. Würde er noch länger in dieses von tiefster Trauer gekennzeichnete Gesicht sehen, wären seine Tränen nicht mehr aufzuhalten. Das war vermutlich der affektiven Perspektivenübernahme geschuldet, wie ihm Frau Dr. Sauer bei der Aufklärung des Todes von Prof. Dr. Himmelreich zum Thema Mitgefühl erläutert hatte. »Und dann zog Sylvia los, um auf eigene Faust zu ermitteln?« Er drehte sich zum Fenster, natürlich nur, um nach dem Krankenwagen zu schauen.
Unerwartet war das schwache Aufflackern eines Aufbegehrens bei Frau Tröger zu vernehmen. »Ich habe sie gebeten, nein, angefleht, sich von dort fernzuhalten. Aber sie hat nicht anders können, zu sehr hat sie ihre Schwester geliebt. Nicht einmal meine Sorge, auch sie zu verlieren, hat sie davon abgehalten. Sie war so sicher, dass ihr nichts passieren würde – und jetzt ...«
»Hat sie etwas herausgefunden?«, wollte Lene Huscher wissen, aber sie schien zu der Unglücklichen nicht mehr durchzudringen.
»Der Krankenwagen«, erklärte der Kommissar, bevor er den Raum verließ, um die Haustür zu öffnen.
Nachdem die Sanitäter zusammen mit Frau Tröger eine Tasche gepackt hatten und mit ihr abgefahren waren, gingen Thomas Sprengel und Lene Huscher schweigend zu ihrem Dienstwagen. Beide ließen das Gehörte Revue passieren. Der Kommissar stützte sich mit beiden Armen auf das Autodach, bevor Lene einstieg.
»Wenn ich bedenke, wie sehr ich gejammert habe, als mich damals meine Ex verlassen hat, dann komme ich mir spätestens heute sowas von dämlich vor.« Er stockte, während Lene ihren Mann verständnisvoll ansah. »Und dabei war das für mich wenigstens der Beginn, um die Frau meines Lebens erobern zu dürfen. Aber Frau Tröger...«
»Das ist eine Tragödie«, stimmte ihm Lene mit bekümmertem Gesichtsausdruck zu, freute sich aber auch über das Kompliment. Nach kurzem Innehalten stiegen sie schließlich beide ein.
Als Thomas den Wagen startete, entfuhr ihm ein »Oh, nein.«
»Was ist?«, erschrak seine Frau wegen des entsetzten Tonfalls.
»Mir ist eingefallen, dass jemand die Leiche identifizieren muss«, stöhnte der Kommissar. »Das kann man der Frau doch nicht auch noch zumuten. Dafür muss eine andere Lösung her!«
Weil der Mond nur eine schmale Sichel am Himmel bildete, war es zwischen den Palmen, Bäumen und Büschen so dunkel, dass sich einzelne Konturen kaum auseinanderhalten ließen. Während sie vorsichtig barfuß über den Rasen huschte, war von ihrem Sari nicht das geringste Geräusch zu vernehmen. Wie eine Einbrecherin hatte sie sich aus einem Dienstboteneingang seitlich am Haus gestohlen und peinlich darauf geachtet, beim Öffnen und Schließen der Tür kein Geräusch zu verursachen, auch wenn nur die Köchin im Haus war. Als sie sich im Schutz der Grünanlage weit genug von der Villa entfernt hatte, beschleunigte sie ihre Schritte und bewegte sich sicher wie eine Katze auf eine markante Palme zu. Sie hätte den Weg selbst mit verbundenen Augen gefunden, so oft wie sie in den letzten Jahren in der Dunkelheit der Nacht hierhergekommen war. Als sie nur noch wenige Meter von der hohen Palme entfernt war, löste sich ein Schatten von deren Stamm und trat leise auf sie zu.
Narindar hatte es viel einfacher, sie zu treffen. Er kam oftmals erst spät von der Plantage zurück und war als junger Mann auch nicht in der gleichen Weise in seinen Aktivitäten eingeschränkt, so dass er insbesondere am Abend meistens kommen und gehen konnte, wie es ihm beliebte. Erleichtert nahm er sie kurz bei den Händen und führte sie in das Wurzelgeflecht eines alten Banyan-Baumes, wo sie die Dunkelheit vollkommen einhüllte. Auch wenn sie dort weit vom Haus entfernt waren und sich unbeobachtet fühlen konnten, mussten sie vorsichtig sein. Ihre heimlichen Treffen würden als moralisch verwerflich betrachtet werden und wären von ihrem Mentor und Ziehvater niemals gebilligt worden.
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