Der Mann mit den geschliffeneren Umgangsformen senkte den Blick – und wartete einfach. Auch ich könnte dir schaden, das solltest du nie vergessen!
»Wie kann man nur so stur sein«, fluchte der Bürgermeister. »Also zwanzig, einverstanden!«
Warum denn nicht gleich so. »Vierzig«, er blickte wieder auf und Alok direkt in die Augen.
»Dreißig.« Sein Verhandlungspartner wischte sich den Mund an der Serviette ab, bevor er scheinbar desinteressiert Reiskörner von seiner Hose sammelte.
»Fünfunddreißig und du zahlst das Essen.« Amit erhob sich, um zu signalisieren, dass es kein weiteres Entgegenkommen mehr geben würde.
»Abgemacht«, grummelte der Andere, während er von seinem Kissen hochblicken musste. »Eine Gratisnacht mit der Neuen inklusive.«
Amit Kumar Sharma nickte mit ausdruckslosem Gesicht. Während er das Restaurant verließ, gestand er sich ein, sich wie nach einer Viehauktion zu fühlen. Ungewöhnlich niedergeschlagen betrat er die belebte Straße. Der Preis war gut, aber vielleicht wurde er zu alt für derlei Geschäfte. Die Frau gereiche dem Mann zur Ehre, indem sich das Verhalten des Mannes als ehrenwert erwies! Warum war er an diesem Mittag nur dermaßen sentimental?
Ekaterina Hilpertsauer war auf der Suche nach einem geeigneten Yoga-Unterricht für sich und ihren Mann. Sie waren erst wenige Wochen verheiratet. Nachdem sie, als sie sich im Krankenhaus kennengelernt hatten, anfangs skeptisch gewesen war, ob das mit ihnen unter diesen Umständen gutgehen könne, war sie schließlich ihrem Herzen gefolgt. Nicht einen Tag, nicht einmal eine Sekunde hatte sie ihre Entscheidung bereut. So gesehen musste sie dankbar dafür sein, kurz nach dem Jahreswechsel angefahren worden zu sein, wodurch sie aufgrund der Gesamtumstände Personenschutz erhalten hatte. Das alles lag inzwischen gefühlte Lichtjahre zurück. Obwohl sie bereits sechsunddreißig war, hatte sie zum aktuellen Sommersemester ein Studium der Sozialpädagogik aufgenommen. Auch diese Entscheidung hatte sich als überaus passend erwiesen. Nur ihre Suche nach einem geeigneten Yoga-Unterricht fügte sich nicht so einfach, wie sie erwartet oder gehofft hatte. Zwei Wochen zuvor hatte sie eine Probestunde in dem großen Yoga-Ashram auf dem ehemaligen Patrick-Henry-Gelände besucht. Das »Yoga der Erneuerung« hatte die komplette Siedlung, wie man hörte, sogar gekauft, in der bis zum Abzug der amerikanischen Truppen Soldaten mit ihren Familien gewohnt hatten. Eine ehemalige Turnhalle war zu einem öffentlichen Übungsraum umgebaut worden: Die Fenster hatte man bis auf den Boden gezogen und Parkett verlegt. Die ganze Halle wirkte lichtdurchflutet. Ordentlich verteilt lagen dort unzählige orangefarbene Matten, Kissen und Decken für die festen Mitglieder des Ashrams. Für Gäste und Interessenten waren im Randbereich der Halle rote Matten mit weißen Kissen und Decken bereitgelegt; niemand musste diese Dinge mitbringen. So schön das auch ausgesehen hatte, hatte Ekaterina die Atmosphäre überhaupt nicht gefallen. Durch die große Zahl der Teilnehmenden kam sie sich letztlich verloren vor, auch wenn die anderen Übenden um sie herum sehr freundlich zu ihr gewesen waren. Außerdem erklang ein Gong, sobald die »Leitenden« die Halle betraten, woraufhin alle Anwesenden dreimal »Guru« skandieren mussten, gefolgt von einem »Wir verbeugen uns in Demut«, das mit einer tiefen Verneigung verbunden wurde. Fortgeschrittene Assistenten gingen bei den Übungen durch die Reihen und korrigierten einzelne Teilnehmer. Auch das hatte Ekaterina nicht gefallen, plötzlich von hinten angefasst zu werden, während sie sich auf eine Aufgabe konzentrierte. Beim ersten Mal war sie zusammengezuckt. Wütend hatte sie den Kopf gedreht und sich gerade noch beherrscht, als sie in das Gesicht einer freundlich wirkenden Assistentin geblickt hatte – zum Glück. Wenn es ein Mann gewesen wäre, der ihr von hinten unter die Achseln gegriffen hätte, hätte sie für nichts garantieren können. Sie bestimmte inzwischen wieder selbst, wer sie berühren durfte – ausnahmslos! Nachdem sie mehrere Tage mit sich gehadert hatte, hatte sie Lene Huscher von ihren Zweifeln erzählt. Die hatte ihr wiederum den Tipp eines Yoga-Angebots in Gaiberg gegeben, das eine Freundin von ihr besuche und dort sehr zufrieden sei. Mit der Kommissarin hatte sie sich auf Anhieb verstanden. Bereits als sie das erste Mal bei ihr im Büro gewesen war, um Anzeige zu erstatten, hatte sie ein gutes Gefühl gehabt, auch wenn Lene sie zuerst weitergeschickt hatte. Sie würde ihr nie vergessen, wie sie sich um sie gekümmert hatte, nachdem sie der Kommissarin kurz darauf verzweifelt erneut auf dem Gang des Polizeipräsidiums begegnet war.
Problemlos hatte Ekaterina Hilpertsauer zu einem kleinen Fachwerkhaus am Ende der Hauptstraße direkt am Waldrand gefunden. Ein kleines Schild hatte sie um das Haus herum zu einem größeren Pavillon aus Holz geführt, dessen Nord- und Ostseite gezimmert war, während die Wände zu den anderen beiden Himmelsrichtungen fast ausschließlich aus Glas bestanden. Mehrere Schafe grasten auf der Wiese zu ihrer Rechten, die an ein Gehege grenzte, in dem ein großer Hahn stolz vor seinen Hennen flanierte. Die Abendsonne tauchte die Idylle in ein warmes Licht. Als sie unerwartet angesprochen wurde, erschrak sie leicht, weil sie keine Schritte hinter sich gehört hatte.
»Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie am Unterricht teilnehmen?«
Ekaterina drehte sich um und sah sich einem sehr schlanken, sie freundlich anlächelnden Mann gegenüber, der vollständig in elfenbeinfarbenes Leinen gekleidet war. Sie hätte nicht sagen können, wie alt er war.
»Ja, ... guten Abend«, gab sie zögerlich zurück, »mein Name ist Ekaterina Hilpertsauer.« Sie hielt dem Mann die Hand hin, der diese mit einem wohldosierten Druck schüttelte.
»Akal Dharam«. Er verneigte sich kurz. »Komm, die anderen warten schon. Darf ich dich Ekaterina nennen?«, fragte er beiläufig, während er sie zur Tür an der Ostseite des Pavillons führte.
»Gerne«, erwiderte sie überrascht über sich selbst, weil sie in der Regel Wert darauf legte, zunächst bei einem Distanz erhaltenden »Sie« zu bleiben.
»Hast du bereits Yoga-Erfahrung, Ekaterina?«, erkundigte sich Akal Dharam Singh, während er die Tür hinter ihr wieder schloss.
»Ich habe bisher nur einen Probeunterricht in dem großen Yoga-Ashram neben der Autobahn mitgemacht«, erwiderte sie der Wahrheit gemäß.
»Gut, das bekommst du hin«, lächelte er sie an. »Nur eine Bitte hätte ich! Falls du dich entscheiden solltest, regelmäßig zu kommen, könntest du dich um hellere Kleidung bemühen!«
Ekaterina schaute an sich hinunter. Sie trug ein orangefarbenes Shirt über einer schwarzen Jogging-Hose. Damit war sie in dem Ashram nicht weiter aufgefallen. Dort hatte es von äußerst knappen und bunten Tops nur so gewimmelt. Als sie wieder aufschaute, fiel ihr erst auf, dass alle Anwesenden, fünf Frauen sowie drei Männer, durchweg in Weißtöne gekleidet waren und helle Schaffellmatten auf dem Holzboden lagen, überhaupt alle Stoffe in Weiß gehalten waren. »Oh«, war es ihr sehr peinlich, »ich wusste nicht ...«
»Die Wenigsten können Hellsehen, Ekaterina.« Akals Augen ruhten mild und ein wenig belustigt auf ihr. »Vielleicht denkst du darüber nach, sobald du dir sicher bist, häufiger kommen zu wollen. Ich will sagen, überstürze nichts, was am Ende nur Geld kostet.« Er klatschte leise in die Hände, um sich die Aufmerksamkeit der Gruppe zu sichern. »Ich bringe uns hier Ekaterina mit, die gerne Yoga ausprobieren möchte«, stellte er sie der Runde vor. »Das sind Leander, Brigitte, Susanne, Tom, Dharma, Ulrike, Snatam und Nirinjan.«
Alle lächelten ihr zu und verneigten sich leicht.
»Dharma, bitte richte ihr eine Matte neben Susanne«, bat Akal. Er überlegte kurz. »Ich vertraue sie dir an, Susanne, wenn du dir das zutraust!«
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