»Richtig«, knüpfte Pompullius an ein Wort des Soldaten an. »Eure Flucht. Ich verstehe, dass ihr zunächst den kürzesten Weg von der Westküste bis in den Süden Britannias eingeschlagen hattet. Nach eurer Schilderung hatten die Picten zu diesem Zeitpunkt längst den Wall, alle Kastelle des Landes bis zu einer Linie ein wenig nördlich des Flusses Tamesis niedergemacht. Dazu alle in diesem Bereich auffindbaren Römer abgeschlachtet oder in den Süden getrieben. Aber warum habt ihr plötzlich die Richtung genau umgekehrt und einige Zeit später erneut geändert? Warum diesen Zickzackkurs? Musstet ihr feindlichen Gruppierungen ausweichen?«
Das Gesicht Sidonius Gavius´ sprach längst von selbst, bevor sein Besitzer auch nur Luft holen konnte. Der Senator spürte sofort, dass ihr Gespräch, das längst den Charakter eines Verhöres verloren hatte, nun an einen Punkt angelangt war, an dem die wirklich interessanten Aspekte ans Tageslicht kommen könnten. Natürlich war es längst tiefe Nacht, aber Pompullius behielt im Geiste die Redewendung aufrecht.
Auch Gavius schien bewusst zu sein, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, wo rein militärische Schilderungen – die der Senator mit verkniffenem Gesicht, aber ohne große Aufgeregtheit aufgenommen hatte -, Beschreibungen weichen mussten, die – gelinde gesagt – mehr als unglaubwürdig klingen mussten. Aber für eine überzeugende Schilderung dieser Umstände hatte er einfach keine Kraft mehr. Alle im Raum sahen dies nur zu deutlich.
»Herr, ich danke dir für alles, was du für mich schon getan hast«, begann er schleppend »aber ich bin einfach nicht mehr in der Lage, mich noch länger aufrecht zu halten.«
Pompullius sah ihn für die Dauer einiger Herzschläge an und konnte nicht bestreiten, dass die Bezeichnung ein Häufchen Elend noch eine Untertreibung war.
In dem Zustand wird er mir wohl nicht davonlaufen, dachte er. Außerdem hat er keinen Grund von hier wegzugehen. Er scheint sehr erleichtert zu sein, endlich ein offenes Ohr gefunden zu haben. Ein Ohr, das bis in den Senat reicht.
Der Mann war mittlerweile so in den Stuhl eingesunken, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er einfach zu Boden rutschen und in Ohnmacht fallen würde. Selbst für den letzten Rest Fisch, den Gavius im Mund hatte, schien er nicht die Kraft zu haben, ihn zu kauen. Also schluckte er den Bissen mühsam hinunter.
Pompullius nickte Alexandros und Simeón zu und die beiden halfen Gavius auf. Der Senator blickte den Dreien nach, als sie durch einen Spalt in den Vorhängen verschwanden, die einen Gang verdeckt hatten, der in Richtung der Sklavenunterkünfte führte.
Für die beiden Wachen genügte nur ein Blick und sie verstanden. Einer der beiden ging den Männern hinterher und würde vor dem Lager des armseligen Soldaten die erste Wache übernehmen.
Das Letzte, an das Pompullius denken konnte, bevor auch er sich in seine Gemächer aufmachte, war ein Wort, das er noch nie gemocht hatte.
Verräter!
Allein das Wort erfüllte ihn mit fast körperlich spürbarer Abscheu.
Es gibt sie überall. Doch welchen Nutzen hätte ein Verräter von so einer umfassenden Niederlage?
Es war schön später Vormittag, als Alexandros in Begleitung von Sidonius Gavius erneut in das Arbeitszimmer des Senators trat. Der Wachmann dahinter blieb am Durchgang stehen und blickte sich in stiller Professionalität um. Der Senator war schon lange wach und arbeitete sich durch eine Menge Schriftstücke, die den halben Tisch bedeckten. Eine fast heruntergebrannte rote Kerze stand neben dem dazu gehörigen Siegelring und ließ eine nadeldünne Rauchfahne nach oben steigen, die durcheinanderwirbelte, als die beiden Männer mit ihrem Eintreten Luftbewegung im Raum verursachten.
Pompullius war so konzentriert bei der Arbeit gewesen, dass er die Schritte der Männer nicht gehört hatte und für eine Sekunde dem sich verflüchtigenden Rauch nachblickte. Dann fiel sein Blick auf seinen Gast.
Sidonius Gavius war während der Nacht natürlich nicht auf wundersame Weise gesundet, doch sah er bei hellem Licht, ausgeschlafen – und nüchtern – deutlich wacher aus, als am Abend zuvor. Wie der Senator angeordnet hatte, hatte man ihn ausschlafen lassen, erneut gebadet und ein Morgenmahl in Ruhe zu sich nehmen lassen. Alexandros hatte ihn informiert, dass Gavius eher zögerlich den Speisen zugesprochen hatte, so als fürchte er, zu viel an gehaltvoller Nahrung würde ihm mehr schaden als nutzen.
Zumindest scheint er seinen Verstand nicht versoffen zu haben, dachte der Senator und deutete auf den gleichen Stuhl, in dem sein Gast schon gesessen hatte.
»Wie fühlst du dich heute Morgen, Sidonius Gavius?«, fragte er mit ehrlichem Interesse und musterte vor allem dessen Augen. Ein Ausbund an strahlender Klarheit waren sie noch lange nicht, aber dieser wässrige Blick war einem einigermaßen ruhigen Ausdruck gewichen.
»Du scheinst dich schnell zu erholen, wenn man bedenkt, dass du dich Jahre hast gehen lassen. Ein Punkt übrigens, den ich wahrscheinlich erst verstehen, wenigstens akzeptieren kann, wenn du mir Näheres berichtet hast.«
Sidonius Gavius antwortete nichts darauf und begnügte sich mit einem Kopfnicken.
Pompullius blies die Kerze mit dem Siegelwachs aus und steckte sich seinen Ring wieder an den Finger. Er begann, diesen mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand langsam zu drehen. Er machte dies immer, wenn er sich konzentrieren wollte und die Hände nicht für andere Aufgaben benötigte.
»Ich habe die halbe Nacht über deine Schilderung der Seeschlacht, den Kämpfen in Londinium und an der Küste nachgedacht, Gavius. Zwei Umstände – von Fakten möchte ich jetzt noch nicht reden – drängen sich immer und immer wieder nach vorne: zunächst die Art der Picten zu kämpfen. Alles was du geschildert hast, hört sich nicht nach einer Horde primitiver Barbaren an. Im Gegenteil: Sie scheinen ab einem gewissen Zeitpunkt mit Voraussicht, Tücke und messerscharfer Logik sich die Schlachtfelder ausgesucht zu haben … und waren außerdem in der Lage, unsere Truppen genau dorthin zu locken, wo sie sie haben wollten.«
Er blickte Gavius an, der durch die Erinnerung noch ruhiger geworden war und wieder eine unnatürliche Blässe im Gesicht trug.
»Stimmst du meiner Einschätzung zu?« Die rhetorische Natur der Frage war für Gavius offensichtlich, sodass er sich erneut nur zu einem Nicken aufgefordert sah.
»Wenn wir mal einen Verräter als Tatsache betrachten und nicht als Spekulation, dann erscheint mir dieser Punkt als äußerst plausibel.« Dieses Mal beugte sich der Senator hinter seinem Schreibtisch so weit vor, dass Sidonius Gavius seinen Oberkörper aufrichtete und sich an die Lehne des Stuhls drängte. »Und glaube mir, Soldat: Wenn es diesen Verräter gibt, werde ich ihn finden und im Circus Maximus hinrichten lassen!«
Der ehemalige Praefectus Classis machte ein Gesicht, dass Pompullius wie eine Mischung aus Dankbarkeit und Schuldgefühl interpretierte.
Wie sind erst am Anfang , ahnte der Senator und setzte sich wieder entspannt in seinen Stuhl. In diesem Mann stecken noch viel mehr Geheimnisse.
»Und der zweite Punkt, Herr?«, erinnerte ihn Gavius und wusste schon, was der Senator sagen würde.
»Diese schier unglaubliche Anzahl der Pictenkrieger. Es ist ein kleines Land, eine Insel. Und die Picten haben nach deiner Aussage nach keine Söldnertruppen eingesetzt.«
»Richtig, Herr. Zumindest sahen wir zunächst keine …«, gab er zu und ihm war anzusehen, dass er diesen Punkt gerne erst später hätte erwähnen wollen … oder gar nicht.
»Also doch?«, fuhr der Senator auf und beugte sich nun über den Tisch, sodass einige der Schriftrollen zu Boden fielen und ein wenig davonrollten.
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