Augenblicklich beschlich sie das Gefühl, auch hier nicht allein zu sein. Sie drehte sich um und entdeckte am Ende des Ganges ein Mädchen, welches nur mit einem dünnen Sommerkleidchen bekleidet war. Scheu senkte es den Blick und starrte auf seine Schuhspitzen. Wie konnten die Eltern nur so etwas durchgehen lassen? Das Kind musste doch in diesem Aufzug frieren.
„Hallo“, grüßte Julia freundlich. „Ist dir denn gar nicht kalt?“
Das Mädchen schüttelte verneinend den Kopf und ihre blonden Locken wippten.
„Aber du wirst dich bestimmt erkälten. Willst du dir nicht lieber eine Jacke holen?“
Unsicher schaute die Kleine in Julias Richtung.
„Hast du dich vielleicht verlaufen, sollen wir deine Eltern suchen?“
Julia streckte lächelnd ihre Hand aus. „Na komm, wir gehen gemeinsam zurück.“
Verschüchtert drehte sich das Mädchen um und lief davon. Die Absätze ihrer schwarzen Lackschuhe klackerten über die Steinfliesen.
„So warte doch!“, rief Julia ihr hinterher und nahm die Verfolgung auf. Sie bog rasant um die Ecke und prallte mit der Stirn gegen eine Tür. Dieses plötzlich auftauchende Hindernis hatte sie ausgebremst und leise fluchend drückte sie die Klinke herunter. Die Tür ließ sich nicht öffnen und ungläubig linste Julia durch das Schlüsselloch. Wohin konnte das kleine Mädchen nur so schnell verschwunden sein, noch dazu durch eine verschlossene Tür?
Ratlos stand sie da und massierte sich die schmerzende Stirn. Mit Sicherheit war es besser, der Hochzeitsgesellschaft gleich Bescheid zu geben, bestimmt vermissten die Eltern das Mädchen schon. Ohne viel Zeit zu verlieren, eilte sie zur Lobby zurück und wandte sich an die Gäste.
„Ist Ihnen vielleicht ein kleines Mädchen abhandengekommen? Dünnes Sommerkleid, blonde lockige Haare und etwa sieben Jahre alt?“
Alle Anwesenden schüttelten die Köpfe, sie hatten die eigenen Kinder zu Hause gelassen. Julia startete an der Rezeption noch einen letzten Versuch. Verwirrt blätterte Christians Chef in den Unterlagen und teilte ihr mit, dass nur zwei ältere Ehepaare angereist waren, ohne Enkelkinder im Schlepptau.
Ratlos wandte sie sich ab. Wahrscheinlich hätte sie sich weniger den Kopf darüber zerbrochen, wenn das Mädchen nicht in einem altmodischen Sommerkleid verschüchtert im Flur gestanden hätte. Jemand tippte ihr auf die Schulter und erschrocken wirbelte sie herum.
„Ach, du bist es …“
„Ja, ich bin es. Sag mal, was hast du denn wieder verzapft? Die Leute sind in heller Aufruhr wegen eines Mädchens, das angeblich vermisst wird.“
„Nein, das stimmt nicht so ganz. Ich bin einem Mädchen begegnet und dachte, es hätte sich im Schloss verirrt.“
„Vielleicht war es ein Kind aus dem Dorf? Die Gören schmuggeln sich hier ständig rein.“
„Ich bitte dich, das Mädchen hat ein dünnes Sommerkleidchen getragen. Wie soll es denn bei diesen Temperaturen hierhergekommen sein? Irgendetwas stimmt da nicht.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte er skeptisch. „Kannst du dich vielleicht daran erinnern, wie das Mädchen ausgesehen hat? Kleid, Haare …“
„Hm, das Kleid war geblümt, das Haar lockig und blond. Außerdem trug es schwarze Lackschuhe.“
„Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?“
„Nicht dass ich wüsste. Warum fragst du? Kennst du das Mädchen vielleicht?“
„Ich? Nein. Kinder sind mir suspekt.“
„Ach ja? Du vertrittst manchmal Ansichten über das Leben …“ Julia schüttelte verständnislos ihren Kopf.
„Entschuldige, dass ich deine Vorhaltungen unterbreche, aber ich habe etwas Wichtiges vergessen. Ich bin gleich wieder zurück.“
Christian ließ sie erneut stehen und stürmte davon. So ein eigensinniges Verhalten hatte sie selten erlebt, er war anscheinend völlig verquer. Abermals musste sie auf ihn warten und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Das Personal, welches durch die Gänge eilte, musterte sie neugierig und Julia fühlte sich wie ein exotisches Tier im Zoo. Es musste sich rasend schnell herumgesprochen haben, zu wem sie gehörte.
Nach einigen Minuten tauchte Christian wieder neben ihr auf, er hatte sich tatsächlich beeilt.
„Und? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“
Irritiert blickte er sie an. „Wie bitte?“
„Du bist doch eben zurückgegangen, weil du etwas vergessen hast, soweit ich mich erinnere.“
Sie suchte seinen Blick, doch er wich ihr aus. Allerdings wirkte er sehr erleichtert.
„Alles vollständig. Können wir jetzt?“
Julia zuckte mit den Schultern. „An mir hat es nicht gelegen.“
Er brummte ein paar unverständliche Worte in seinen Dreitagebart und lief nach draußen. Mit ihm an ihrer Seite umrundete sie erneut das Gebäude. Der Ball war inzwischen verschwunden und sie fragte sich, ob er wohl dem Mädchen gehörte.
„Wir haben richtiges Glück, dass sich noch die Sonne zeigt. Ich kenne eine Stelle, von der man eine wunderschöne Aussicht hat.
„Na dann, worauf warten wir noch.“ Julia eilte erwartungsvoll voraus.
Christian hatte wirklich nicht zu viel versprochen. Uralte Linden säumten den steilen Weg und Holzbänke mit einer grauen Patina luden zum Verweilen ein. Das kleine Dörfchen schmiegte sich in das Tal und zeigte sich von seiner schönsten Seite. Obwohl ihnen ein ruppiger Wind um die Ohren pfiff, genoss Julia diesen Spaziergang.
Hinter der letzten Biegung entdeckte sie eine Kapelle und direkt dahinter verbarg sich eine kleine Lichtung, die von hochgewachsenen Bäumen umsäumt wurde. Je näher Julia der Lichtung kam, desto heftiger blendete das Sonnenlicht. Immer wieder kniff sie die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Dann zog etwas ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich und sie glaubte zu träumen.
Mitten auf der Lichtung standen zwei kleine Mädchen und winkten ihr zu. Der noch immer schwach vorhandene Nebel und das gleißende Licht der Sonne verhinderten, dass Julia Genaueres erkennen konnte. Alles wirkte schemenhaft und sie beschleunigte ihre Schritte. Vielleicht stammte das kleine Mädchen ja doch aus dem Dorf und die Sache hatte sich damit geklärt.
„Christian, kannst du auch die Mädchen sehen?“
„Welche Mädchen?“
Julia zeigte in die Richtung. „Na, die zwei da vorn auf der Lichtung. Vielleicht ist es ja die Kleine, die ich vorhin getroffen habe.“
„Und warum ist dir das so wichtig?“, murrte er. „Ich will spazieren und keinen Marathon laufen.“
Sein Charme konnte einen umhauen, dachte sie nüchtern und ließ Christian einfach stehen. Sie eilte voraus und achtete nicht auf den unebenen Boden. Unglücklicherweise verhakte sich ihr linker Fuß im Wurzelwerk einer Linde und sie strauchelte. Ihre Hände griffen ins Leere, während sie auf den gefrorenen Boden zuraste. Der Aufprall war hart und sie rieb sich wimmernd den schmerzenden Knöchel.
„Mit Sicherheit verstaucht“, jammerte sie.
„Du hast aber auch ein Talent, dich in unmögliche Situationen hineinzumanövrieren, und das für nichts und wieder nichts. Siehst du hier irgendwo ein Kind?“
Er deutete mit seiner Hand auf die menschenleere Lichtung. Inzwischen hatten sich dichte Wolken vor die Sonne geschoben und keines der Mädchen war mehr zu sehen.
„Leidest du unter Gleichgewichtsstörungen?“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Oder brauchst du vielleicht eine Brille?“
„Jetzt werd bitte nicht unverschämt“, fauchte sie. „Ich habe eine Brille, aber die setze ich nur in der Uni auf. Ansonsten ist mit meinem Oberstübchen alles in bester Ordnung.“
„So war das doch gar nicht gemeint, du bist aber auch immer empfindlich.“ Christian zog eine beleidigte Miene und half ihr auf. „Wir sollten zurückgehen und in der Gaststätte einen Happen essen.“
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