„Singen Sie ein Lied Ihrer Wahl!“
Fritz bleibt stumm und grinst über beide Ohren.
„Setzen, Fünf.“
Danach begann der reguläre Unterricht. Mit der Zeit wurde das Ritual verkürzt, gehörte fast zur Begrüßung: „Fritz, singen; setzen, Fünf.“
Inzwischen konnte Fritz nicht mehr richtig grinsen, auch wir sorgten uns. Das Abi rückte näher und Fritz stand in Musik glatt Fünf. Mit einer Fünf, in welchem Fach auch immer, bestand man das Abi nicht. Abwahlmöglichkeiten gab es nicht. Es gab nur einen Ausweg: mündliche Prüfung. Die Lehrer ordneten sie ihrem Stellenwert entsprechend als Epilog ein. Wir hatten alle unsere Prüfungen hinter uns, als Fritz in die Aula gerufen wurde und die Prüfung auch bestand.
Streng und zackig ging es bei Herrn Diecke im Geschichtsunterricht zu. Er war mit vielen Narben aus dem Krieg zurückgekehrt, auch im Gesicht. Er hatte sich aus einem brennenden Panzer retten können. Wenn wir zur Begrüßung aufgestanden waren, durfte sich nur setzen, wer die richtige Geschichtszahl wusste. Mit einem langen Zeigestock bewaffnet spießte er seinen Kandidaten förmlich auf. Aus heutiger Sicht scheint das autoritär, fast militärisch. Doch Geschichtszahlen kann man nur pauken. Sie geben uns ein Gerüst, den Lauf der Welt besser zu verstehen. Wie sollte ich Persönlichkeiten oder Ereignisse richtig einordnen, wenn ich ihre Zeit nicht kenne? Es ist wohl ein Unterschied, ob wir 1077, 1517, 1917 oder 2017 schreiben.
Gegenwartskunde hatten wir ebenfalls bei Herrn Diecke. Hier lernten wir den Marxismus-Leninismus kennen, hörten von den Widersprüchen der Welt, die zur Lösung drängen.
Die „Bibel“ für dieses Fach war Stalin: „Fragen des Leninismus“. Zu allen Bereichen des Lebens hatte Lenin seine Visionen entwickelt, sein Exil hatte er gut genutzt. Es geisterte ein Ausspruch durch diese Zeit:
„Und schon Lenin sagte...“, damals natürlich auf Russisch.: „I usche Lenin skasal…“
In unzähligen Reden und Schriften hatte Stalin Lenins Gedanken erläutert und weiter entwickelt. Noch heute sind mir einige Schlagworte präsent:
„Lernen, lernen und nochmals lernen“, hatte er uns auf den Weg gegeben, denn „Wissen ist Macht und Können ist Großmacht.“
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, auch diese Worte schrieb man Stalin zu. Ich ahnte damals noch nicht, welche Bedeutung sie besitzen sollten.
1956, als Stalins Verbrechen publik wurden, schredderte man alle seine Bücher von einem Tag auf den anderen, erklärte seinen Namen zum Unwort.
War denn alles falsch, was in diesem Buch stand, alles falsch, was wir bisher gelernt hatten?
Dieser plötzliche Umschwung machte mich nachdenklich. Eine wirkliche Diskussion fand nicht statt. Ich erinnerte mich der Tränen, die viele Menschen bei seinem Tod vergossen hatten. Mit Stalin auf den Lippen gingen die Soldaten todesmutig in ihren Großen Vaterländischen Krieg und schlugen unseren „ Gitler kaputt“ . Als ich später Georgien besuchte, staunte ich, wie in seiner Heimat sein Mythos weiter lebt.
Es war alles nur beschriebenes Papier, wir hatten uns der Realität zu stellen. Die sah 10 Jahre nach dem Krieg nicht rosig aus. Schlimme Erinnerungen steckten tief in uns allen, so tief, dass niemand darüber reden mochte. Nur die Zukunft war uns wichtig. Noch heute höre ich, wie die Menschen sich damals schworen:
„Nie wieder, nie wieder Krieg, lieber ein Leben lang trocken Brot essen.“
Das vergisst man nicht.
In meiner klein gewordenen Heimat sah es trostlos aus. Nicht nur abgebrannt, auch ohne Kohle, Erz und nennenswerte Industrie. Die Heimat unserer Besatzer war ebenso abgebrannt, abgebrannt von unseren Vätern. Auf einen Marshallplan konnten wir nicht hoffen. Unser Wirtschaftswunder musste anders aussehen als in Westdeutschland. Aus eigener Kraft räumten wir die Trümmer weg und setzten neue Fundamente.
„Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“
Also klotzen wir ran.
Wissenschaftler entwickelten neue Technologien, um die Braunkohle besser zu nutzen, in Rostock entstand ein Überseehafen, in Schönefeld der Hauptstadtflughafen. Eisenhüttenstadt wuchs nicht nur als neue Stadt empor, gemeinsam mit den polnischen Nachbarn wurde Schwerindustrie geschaffen. Der Kunststoff-Trabant aus Zwickau war auch eine bemerkenswerte Innovation.
Aber wir mussten erst einmal lernen und nochmals lernen.
Im Grundgesetz des Sozialismus ist das Leistungsprinzip verankert. Das war nach meinem Geschmack. Mit der Jugend eigenem Elan wollte ich diese Aufbruchphase mitgestalten, Verantwortung übernehmen. So war es nur folgerichtig, dass ich einwilligte, als mein Sportlehrer mir antrug, Kandidat der SED zu werden.
Stürmisch brauste der Frühling durchs Land. Mit jedem neuen Tag mehrte er das frische Grün und schmückte den Park mit leuchtenden Blüten der Tulpenbäume.
Langsam hatte ich mich an meine neue Rolle als „Schlossfräulein“ gewöhnt. In der Klasse war ich freundlich aufgenommen worden, niemand lästerte über mein Stottern in Russisch. Mein Pate büffelte nachmittags mit mir die anspruchsvollen Texte.
Nett und freundlich kam eines Tages Karin auf mich zu:
„Na, hast du dich schon etwas eingelebt?“
„Na ja, geht so.“
„Und“, fügte sie flüsternd hinzu, „hast du schon einen Jungen gesehen, der dir gefällt?“
Sollte ich ihr die Wahrheit sagen?
Tatsächlich hatte ich einen gesehen. Kraftvoll war er über den Hof geschritten, groß, stark, kein kleiner Junge mehr, Augen und Haare schwarz wie die Nacht.
Naiv wie ich war, verriet ich ihr mein Geheimnis und prompt wussten es fast alle:
„Du mit deinen Rehaugen wirst ihn schon betören.“
Das war mir peinlich. Falls es Armin auch erfahren hatte, sollte er sich nicht zu viel einbilden. Statt sich in seine Nähe zu drängen, wie es andere Mädchen taten, machte ich mich so weit wie möglich unsichtbar.
Eines Tages prangte an der Tafel der Besten mein Name im Hoch- und Weitsprung. Systematisch zu üben, gar in der Trainingsgruppe, in der auch mein Schwarm trainierte, hatte ich nicht vor. So groß war mein sportlicher Ehrgeiz nicht.
Eines Sonnabends jedoch, wir feuern gerade unsere Jungs beim Fußball an, die Auswärtigen sollen nicht gewinnen, schlendert Armin auf mich zu. Mein Herz beginnt zu rasen, schlägt mir bis zum Hals, meine Hände, mein ganzer Körper scheinen zu vibrieren. Ich traue mich kaum, ihm in die Augen zu sehen.
Er hält einen Sportausweis in der Hand, m e i n e n gültigen Sportausweis bei Traktor Wiesenburg:
„Du bist so gut im Hochsprung, du kannst an den Meisterschaften teilnehmen. Ich hab` dir schon mal einen Ausweis besorgt.“
Ich versuche, möglichst gelassen zu bleiben: „Wie geht das?“
„Den Aufnahmeantrag habe ich für dich ausgefüllt und auch gleich für dich unterschrieben. Ohne Sportverein kannst du nicht starten.“
Staunend folge ich seinem Redefluss.
„Bei den Kreismeisterschaften hast du keinerlei Konkurrenz und als Kreismeister kannst du bei den Bezirksmeisterschaften starten. Also los.“
Lange Bedenkzeit brauche ich nicht. In einer Mannschaft mit Armin zu starten, waren prima Aussichten.
„Na klar, warum nicht?“
Einen Wettbewerb im Hochsprung musste ich nicht fürchten. Nicht so elegant wie heute kämpften wir uns damals über die Latte, sondern einfach mittels Schersprung. Die Profis stellten gerade ihre Technik um, in den Schulen war das noch nicht angekommen.
Tatsächlich werde ich Kreismeister und erhalte eine Einladung zu den Bezirksjugendmeisterschaften in Falkensee. Dort habe ich echte Konkurrenten aus der Sportschule. Schon die Anfangshöhe im Wettbewerb imponiert mir. Die anderen Sportlerinnen überspringen sie lässig im Trainingsanzug. Sie kennen sich alle von der Schule oder vorherigen Wettkämpfen. Ich bin krasser Außenseiter. Schon meine Teilnahme ist etwas Besonderes. Ohne zu hohe Erwartungen konzentriere ich mich auf die Sprünge, springe, wenn mein Name aufgerufen wird. Ich komme immer öfter an die Reihe, das Feld wird kleiner. Schließlich lande ich auf Platz 3 und habe für mich und die Schule Punkte gesammelt.
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