Annebärbel Dr. Jungbluth - Ja. Aber...

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A.J., Jahrgang 1939, die Bilder des brennenden Berlin nie ganz aus ihrem Gedächtnis getilgt, geprägt durch Krieg und Nachkrieg, möchte möglichst bald Verantwortung übernehmen. An der Charité Medizin studiert, über Jahrzehnte in Klinik und Ambulanz als Kinderärztin tätig, übernimmt sie im Magistrat von Berlin Verantwortung für die Kinderheilkunde, den Jugendgesundheitsschutz und die Gesundheitserziehung. Die Wende erlebt sie als Ärztin im Sport- und Erholungszentrum, wagt anschließend in ihrem
6. Lebensjahrzehnt den Spagat zwischen Arzt und Unternehmer und gründet ihre eigene Praxis.
Aus ihrer ganz persönliche Sicht schildert sie eindrucksvoll und lebendig, wie sie in den letzten 70 Jahre Höhen und Tiefen erlebte,

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Inhaltsverzeichnis

Das Abenteuer Leben beginnt

Als Heiden in Kummerow

Gen Süden

Leben am Flunsch

Alles wird anders

Ab jetzt entscheide ich

Unser Schloss Gripsholm

Start ins wirkliche Leben

Wir studieren

Ich tanze im Studentenensemble

Ich werde erwachsen

Mut zur Familie

Erste Schritte in der Klinik

Chef am Haken

Gratwanderungen zwischen Leben und Tod

Als Reisearzt in Bulgarien

Die Chirurgie lässt mich nicht los

Hausbesuche sind immer vier Treppen

Ein Tag hat 24 Stunden

Mein Babyjahr

Mein Großer wird Schulkind

Mit dreißig am Ziel?

Ich lande bei der Polizei

Anke kommt in die Schule

Wir bauen eine Datsche

Ich bin nicht mehr „kaderrein“

Die Erde dreht sich trotzdem

Ein ganz normaler Kinderarzt?

Bereichspädiater in Biesdorf

Berlin - Marzahn

Der Rennsteiglauf – meine Olympiade

Mythos Gesundheit

Abenteuer Kaukasus

Ärztin im Sport- und Erholungszentrum

Jungunternehmer „50 plus“

Wir gliedern uns ein

Praxisgründung

Meine Kinder finden ihren Weg

Ich besuche meinen Bruder

Spagat zwischen Arzt und Unternehmer

Moderner Ruhestand

Mit 60 ist noch lange nicht Schluss

Genug gearbeitet

Das Abenteuer Leben beginnt

Als Heiden in Kummerow

Am Rande der großen Stadt, wo Straßennamen auf Promenade enden, Allee, Weg oder Steg, wo Vögel singen, wo Nachbarn sich kennen und grüßen, hier wurde ich geboren, hier habe ich meinen ersten Atemzug getan.

War jedoch mein erster Schrei ein Freudenschrei?

Plötzlich war es furchtbar kalt und laut und hell.

Atmen sollte ich auch alleine.

Mich hatte niemand gefragt, von wem ich in die Welt

geschickt werden wollte, wann und wohin

und ob überhaupt.

Es konnte nur ein Schrei der Empörung sein.

Enge, kratzende Dinge zog man mir an.

Vor Erschöpfung schlief ich ein, vorsichtshalber

mit geballten Fäusten.

Es dauerte nicht lange, so wurde ich vor Hunger wach.

Auch so ein unangenehmes neues Gefühl. Aber schreien

konnte ich schon und mich bemerkbar machen.

Die ersten Tage verbrachte ich mit Trinken und Schlafen. Die Ruhe täuschte. Mein kleines Gehirn ratterte, funkte und knisterte in allen Furchen und Synapsen. Jetzt musste sich zeigen, ob alles richtig funktionierte, ob alles vorhanden war, um gewappnet zu sein für das große Abenteuer Leben.

Zwar wurde ich nicht in einem Maharadscha-Palast geboren, nicht in einem bitterkalten Iglu, aber auch nicht in einer kargen Hütte in Afrika. Ich konnte mit meinem Häuschen am Rande Berlins ganz zufrieden sein. Nur war der Oktober 1939 nicht der günstigste Zeitpunkt.

Mit jedem neuen Tag konnte ich Interessantes entdecken. Zuerst trauten sich meine Augen, die Helligkeit zu testen. Ich blinzelte und sah Muttis lächelndes Gesicht nah über mir, während ich lustvoll trank und kuschelte.

Eigentlich war es doch ganz schön hier, in dieser grellen, lauten Welt.

Nach und nach beteiligte ich mich selbst an dem Geschehen, konnte lächeln, bald auch plappern und vor Freude juchzen. Vor allen Dingen konnte ich nach Herzenslust strampeln. Nur Traute schaute skeptisch. Ihr Prinzessinnendasein war nicht mehr das alte, jetzt gab es zwei Prinzessinnen. Und mein Vater? Das war der nette Herr, der gelegentlich zu Besuch kam und Geschenke mitbrachte. Die Großen meinten, er sei im Krieg. Was das auch war, ich nahm es hin, kannte es nicht anders.

Mein erstes Abenteuer ließ nicht lange auf sich warten.

Wölfchen, unser kleiner Bruder, war geboren worden und wir Mädel sollten beschäftigt werden. Über Nacht hatte Frau Holle einen weißen Teppich ausgebreitet. Jetzt funkelte er mit vielen kleinen Sternen in der Sonne. Ein netter Junge aus der Nachbarschaft lud uns ein zu einer Schlittenfahrt. Weit und breit gab es keine Berge, nicht einmal kleine Hügel. So setzten wir uns auf den Schlitten und er zog los mit uns. Auch sein Hund freute sich über die fröhliche Gesellschaft. Wir glitten vorbei an weißgepuderten Zäunen, an Briefkästen und Pfählen, die weiße Mützchen aufgesetzt hatten, an Sträuchern und Gräsern, die sich unter der Last zur Seite bogen. Der Schnee knirschte lustig unter den Kufen, gefrorene Pfützen knisterten wieder anders. Wir waren schön warm eingepackt, ich hätte es eine Weile so ausgehalten.

Doch wir kommen an einen Bach. Kleine Wellen kräuseln sich den Lauf entlang, plätschern munter in die Welt. Gerade hatte ich gelernt, im Winter kann man über Wasser fahren, weil es gefroren ist. Jetzt ist immer noch Winter und das Wasser im Bach ist nicht gefroren. Neugierig schaue ich den Wellen nach, wie sie immer weiter unter der Brücke verschwinden. Gerade so groß, dass ich mich auf dem Zwischensteg des Geländers aufstützen kann, kommt es, wie es kommen muss. Ich beuge mich so weit vor, bis ich direkten Kontakt mit ihnen habe.

Huch, ist das kalt.

Pudelnass stehe ich im Bach und verstehe die Welt nicht mehr. Der Hund des Nachbarn ist zuerst bei mir. Ganz erstaunt sehe ich ihn über mir an der Böschung, eben noch war er neben mir auf der Brücke. Meine Rolle durchs Geländer war perfekt, das Wasser nicht tief und mir geht es gut. Meine Bergung ist unproblematisch. Als Eiszapfen zu Hause angekommen, wärmt mich Mutti in ihrem Bett, heißer Holundersaft aus unserem Garten wärmt mich von innen.

Der Krieg rückte näher und näher. Ein kleiner Flughafen war nicht weit und Wünsdorf, das Hauptquartier des Heeres. Wie leicht konnte eine Bombe ihr Ziel verfehlen und uns treffen. Immer öfter saßen wir im engen Keller, fröstelnd, eng beieinander und verfolgten das bedrohliche Pfeifen. Wo wird sie wohl niedergehen? Wen wird es diesmal treffen?

Rechtzeitig hatten wir einen Notausstieg geprobt. Vor dem kleinen Fenster lag ein Sandsack. Würden wir Kinder es notfalls schaffen, ihn wegzuschieben und würden wir dann auch durchpassen? Wo der Kopf Platz fand, hatte auch unser kleiner Körper kein Problem. Wir passten durch. Das war ein ganz amüsantes Spiel. Noch jahrelang probierte ich jedes Gitter aus, ob ich auch durchpassen würde.

Bald bot sich die Chance, den schrecklichen Bombennächten zu entfliehen. Die Dorfschule in Biesenbrow war verwaist, der Lehrer in den Krieg beordert. Diese Nachricht erreichte auch

meine Mutter. Als Studienrätin mit den Fächern Deutsch

und Mathematik war sie gut gerüstet. Sie musste nicht

lange überlegen. Ohne zu zögern nahm sie die Stelle an.

Wir sollten also Ehm Welks Kummerow kennen lernen,

Kummerow im Bruch hinterm Berge, wo im Sommer

die Wolken weißer, die Farben kräftiger scheinen als anderswo.

Der Weg vom Bahnhof war ganz schön lang für meine kurzen Beine. Müde erreichte unser kleiner Trupp, Traute, Wölfi und ich im Schlepp meiner Mutter, endlich das Dorf, neugierig beäugt von den Bäuerinnen.

Das war also die neue Lehrerin.

Aber wie sprachen die denn? Ich verstand kein Wort. Mutti versuchte uns etwas Unverständliches zu erklären. Die Frauen machten jedoch keinen bösen Eindruck und leiteten uns gerne in das Pfarrhaus. Es sollte für die nächste Zeit unser Zuhause sein.

Der Krieg war nun weit weg, die Erwachsenen verschonten uns vor schlimmen Nachrichten. Männer gab es kaum im Dorf, das waren wir gewohnt.

Vor der Kirche, die das Pfarrhaus von der Schule trennt, breitete sich ein kleiner Teich aus. Der war insofern interessant, als ein riesiger Felsbrocken sich darin erhob, und majestätisch über allem Treiben wachte. Nur wer Mut hatte, konnte ihn mit zwei Sprüngen über einen anderen Stein erreichen. Wer dies geschafft hatte, thronte wie ein König vor dem kleinen Dorfplatz.

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