Ihr Bereich war mit einem Schlagbaum abgetrennt, für Fußgänger jedoch nicht gesperrt. Unser wichtigster Kaufmannsladen befand sich direkt dahinter. Das bedeutete für uns, entweder einen weiten Umweg in Kauf zu nehmen oder:„Augen zu und durch“. Ich benutzte in der Regel den kurzen Weg, wagte aber kaum nach links oder rechts zu sehen, eilte zügig bis zum Schlagbaum am anderen Ende. Dort atmete ich erleichtert auf und konnte entspannt meine Aufträge erledigen. Am Monatsende hatten wir stets noch einige Marken übrig, Mutter konnte gut einteilen. Dann wurde ich im Laden bevorzugt bedient. Viele Frauen mussten warten, weil sie schon mit den Marken vom nächsten Monat einkaufen wollten. Stolz ging ich an ihnen vorbei und zeigte meine Marken vor. Unter neidvollen Blicken nahm ich meinen Zucker, mein Mehl und andere Dinge entgegen. Ordentlich beladen konnte ich meinen Rückweg wieder antreten.
Eines schönen Wintertages strebe ich mit Wölfi gut gelaunt der Cyriaksburg entgegen. Mt unserem Schlitten sehen wir uns schon den Berg hinunter sausen. Kurz vorher biegen wir in einen kleinen Weg ein.
„Stoi!“ schallt es uns entgegen. Vor Schreck erstarren wir zu Stein, stehen wie festgenagelt vor einem großen Jungen. Er brabbelt etwas auf Russisch und beginnt an unserem Schlitten zu zerren. Deutlich älter und kräftiger als wir, haben wir keine Chance. Weit und breit keine Menschenseele. Auf dem glatten, abschüssigen Weg beginnen wir zu rutschen. Doch unsere Schreckstarre löst sich, mit einer Hand krallen wir uns am Schlitten fest, mit der anderen am nahen Gartenzaun. Wir sind schließlich zu zweit und fest entschlossen, uns nicht von unserem Schlitten zu trennen. Es gibt keinen neuen.
Plötzlich zieht er eine Pistole und zielt auf uns.
Die Angst lässt uns erneut erstarren. Noch nie mussten wir in den Lauf einer Pistole schauen. Wir können keine Spielzeugpistole von einer echten unterscheiden. Für uns ist sie echt. Wir lassen trotzdem nicht los.
Wir wenden uns ab, um diesen schrecklichen Lauf nicht zu sehen, halten aber weiter fest.
Endlos schleicht die Zeit, doch wir weichen nicht.
Schließlich senkt er die Waffe, zieht von dannen, ohne Schlitten
Kein Schuss war gefallen. Der Zaun hatte gehalten und wir auch. Erst jetzt beginnen uns die Knie zu zittern, auf dem kürzesten Weg eilen wir nach Hause. Wir besitzen noch unseren Schlitten, doch die Lust am Rodeln ist uns vergangen.
Und die bewusste Straße mit den Schlagbäumen wurde vollends zur Horrorstraße. Hier musste der Junge ja wohnen.
Der Krieg, war er tatsächlich vorbei?
Mein kleiner Bruder sollte vor seiner Einschulung etwas aufgepäppelt werden.
Während er für einige Zeit in den Westen fuhr, zur jüngsten Schwester meiner Mutter, ging für mich und meine Schwester der Alltag weiter. Morgens den Schulweg legte ich im Sauseschritt zurück. Erst auf den letzte Drücker verließ ich das Haus, ich schlafe doch morgens so gerne. Eine große Gärtnerei kurz vor der Schule war mein Geschwindigkeitsmesser. In langen Reihen leuchteten niedliche kleine Pantoffelblumen durch den Zaun, streng sortiert nach Farben. Wenn die Kirchturmuhr dreimal schlug, musste ich an einer bestimmten Farbe sein, um die Klasse pünktlich zu erreichen. War ich schon weiter, konnte ich etwas bummeln, hatte ich sie noch nicht erreicht, musste ich mich ordentlich sputen.
Die Schule selbst, ein ehrwürdiger Backsteinbau, hatte den Krieg als Lazarett überlebt. Das rote Kreuz auf dem Dach leuchtete noch immer in den Himmel. In der Turnhalle campierten Flüchtlinge, die von uns in den Pausen neugierig beäugt wurden.
Unser Sportunterricht fand auf dem Schulhof statt. Wir spielten öfter Völkerball. Ein riesengroßer Ball, gefüllt mit Sägespänen, sollte von uns bewältigt werden. Warum er Medizinball hieß, hat sich mir nie erschlossen. Wenn ich ihn wirklich gefangen hatte, knallte er mir mächtig ins Gesicht und trieb mich ein paar Schritte rückwärts. Schnell wollte ich dieses Ungetüm wieder loswerden und jemand anderen treffen. Was tut man nicht alles für die Mannschaft.
Viele Schulbücher gab es nicht. Die wenigen Hefte, die ich brauchte, passten gut in meinen Ranzen und dort blieben sie auch. Ich musste mir keinen Stundenplan merken, hatte für jede Stunde das Notwendige parat.
Mit einer Ausnahme: Handarbeit!
Wir sollten Socken stricken. Regelmäßig fehlte mir mein angefangenes Exemplar. Wie sollte ich mir auch merken, dass dieser Schultag ein besonderer war. Regelmäßig fand sich eine mitfühlende Seele, die mir mit Wolle und Nadeln aus der Patsche half. Ich fing jedes Mal von vorne an, kam über das Zwei-rechts–zwei-links-Bündchen kaum hinaus. Lange schon unterrichtete die Lehrerin an dieser Schule. Sie kannte noch einige Eltern von uns. Es gab stets ein freudiges Hallo, wenn bekannte Namen auftauchten. Ich verkniff mir lieber, den Mädchennamen meiner Mutter preiszugeben, obwohl ich täglich an der Straße vorbei kam, in der sie als Kind gewohnt hatte. Die Aufmerksamkeit der Lehrerin wollte ich nicht auf meinen Nicht-Socken lenken. Außerdem war Mutti wohl auch keine Musterschülerin gewesen, wie ich aus ihren Erzählungen weiß.
Mit neuen Kinderschuhen unter dem Arm kam eines Tages
unsere Lehrerin in die Klasse. Ein Lager mit Schuhen war konfisziert worden. Noch echte Friedensware. Ich trug zu dieser Zeit ökologisch wertvolle Sandalen. Tarnstoff aus dem Krieg, der im nahen Steigerwald reichlich entsorgt worden war, konnte dafür verarbeitet werden. In schmale Streifen geschnitten, diese zu Zöpfen geflochten und fest zusammengenäht, ergab er brauchbare Sohlen.
Einen Bezugsschein für neue Schuhe besaß ich auch. Damit war ich Kandidat zum Anprobieren. Und tatsächlich passte mir ein Paar, ein wunderschönes Paar, tiefblau, mit einer Lasche über den Schnürsenkeln und niedlichen Holzglöckchen am Ende der Bänder. Ich wollte sie nicht wieder ausziehen, brauchte ich auch nicht. Der ganzen Klasse durfte ich meine Schuhe vorführen. An der Hand der Lehrerin durchschritt ich den Raum und ließ mich mit meinen neuen Schuhen bewundern. Ich konnte mich lange nicht von ihnen trennen. Mutter sah das mit gemischten Gefühlen, Kinderfüße pflegen zu wachsen.
Zum Geburtstag bekam ich eine Blockflöte geschenkt und auch Unterricht. Frau Brose, eine nette ältere Dame, ich musste immer durch die bewusste Straße gehen, ließ mir an einem langen Seil den Schlüssel herab, versteckt in einem roten Rüschenbeutel. Von unten grüßte ich artig mit einem Knicks. In einer kleinen, gemütlichen Wohnung unter dem Dach lernte ich Woche für Woche neue Lieder zu spielen. Besonders gefiel mir, wenn wir gemeinsam spielten.
Heimwärts schlenderte ich dann trällernd durch die Straßen: „Weißt du wie viel Sternlein stehen…“
Ich wusste es nicht. Je länger ich in den abendlichen Himmel schaute, zwinkerten mir immer mehr kleine, ferne Lichter zu. Ich konnte sie nicht zählen, es wurden immer mehr. Es war verwirrend.
Doch w er könnte sie zählen? Bestimmt der Liebe Gott .
Also sang ich mein eigenes Lied „Der Liebe Gott hat die Sterne gezählt…“ Das machte Spaß und sogleich wollte ich 'Singerin' werden.
Kann der Liebe Gott wirklich alle Sterne zählen? Ihm wird es doch genauso gehen wie mir, je länger er zählt, umso verwirrender wird es .
Also ergänzte ich mein Lied „Der Liebe Gott hat die Sterne gezählt, doch er hat sich verzählt…“Nun war ich an einer Apotheke angelangt. Jedes Mal wunderte ich mich neu. Da gab es einen Buchstaben, den man beim Sprechen einfach weglassen konnte.
Wir sagen doch nicht Apot- heke.
Was sich die Großen so alles ausdenken .?!
Zu Hause auf meinem Balkon, gerade groß genug für meinen Notenständer und für mich, war mein Lieblingsplatz zum Üben. Die Töne stiegen lustig in die Luft, flatterten hinüber zum Wasser und mischten sich in den Gesang der Vögel. Die Nachmittagssonne, wenn sie denn schien, vergoldete eine kleine, friedliche Insel in dieser kriegsgeschüttelten Stadt.
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